Mamsik

Die erste von mir und meinen Schwestern in früher Kindheit erlernte Sprache war Russisch. Nach der Ankunft in der Schweiz wurde für uns Deutsch die hauptsächlich benutzen Sprache,. Trotzdem blieb Russisch zeitlebens die alleinige Sprache zwischen uns und unseren Eltern. Marischa nannte die Mutter auf Russisch meist liebevoll und zärtlich“ Mamsik“ und hat aber sie geschrieben:

Meine Mutter, Madeleine van Rijckevorsel, 1903 in Moskau als Tochter des Karl van Rijckevorsel geboren und 1981 in Basel verstorben, war eine Kosmopolitin und ihrer Generation und Umgebung weit voraus. Nach der zweisprachigen Kindheit in Russland lernte sie dank der zweiten Ehe ihrer französischen Mutter mit dem Deutschen Wanja Rüchardt deutsch als dritte Sprache. Ihr Stiefvater Rüchardt war Besitzer des nach der russischen Revolution bis zum zweiten Weltkrieg zum Familienzentrum gewordenen Schackenhof in Polen.

In der Emigration hatte Mama meinem Vater noch vor Abschluss seines Chemie-studiums deutsch beigebracht, ihn geheiratet und drei Kinder zur Welt gebracht. 1929 reisten sie von Papas erster und unbefriedigender Stelle in Kanada zurück nach Europa und nach Basel, wo mein Vater als Chemiker bei der Ciba empfohlen worden war.

Mamsik wurde das Zentrum der Familie, von ihrem Mann leidenschaftlich geliebt und auf ein Podest gestellt. Er selbst hat den Verlust seiner russischen Heimat nie verschmerzt, das ursprüngliche Studienziel, Agronom zu werden, aufgegeben und seinen ganzen Ehrgeiz und Lebensmut auf seine Frau übertragen. Durch seine weitgehend persönliche Askese ermöglichte er unserer Familie als vermögensloser Lebenskünstler dennoch ein angenehmes Leben, seiner Frau eine Haushalthilfe und die Erfüllung gesteckter Ziele an wechselnden Wohnorten. Er förderte selbstlos ihre Bedürfnisse, um ihrer rastlosen Suche nach Selbstverwirklichung entgegen zu kommen. Sie hatte beschlossen, sich in Berlin zur Modistin und Schneiderin ausbilden zu lassen und, wieder zurück zu Mutterpflichten in Haus und Garten, uns mit selbst-geschneiderten, oft ungewöhnlichen Kleidern auszustatten.

Später, im Arlesheimer Haus, praktizierte sie – in einer eigenen Dunkelkammer – mit Erfolg ihre von unserer fortschrittlichen Urgrossmutter in Polen erlernte Fotografie und bekam einen Foto-Preis . Erbost, dass sie als bürgerliche Frau eines Chemikers von der Basler Kunstgewerbeschule abgewiesen worden war, an der sie sich eine professionelle fotografische Ausbildung erträumt hatte, war unsere Mutter oft launisch und unzufrieden.

Das allabendliche und nach beruflicher Enttäuschung tönende Gemurmel meines von der Arbeit heimgekehrten, von Laborgerüchen durchtränkten Vaters in der Bibliothek oben auf der Galerie, hat mich jeweils mit Mitgefühl für meine gelangweilte Mutter erfüllt. Ich schwor mir, nie einen Chemiker zu heiraten und begnügte mich im Übrigen mit der Suche nach meiner eigenen Position im ungleichen Gefüge unserer Familie, die uns Kinder, vermutlich alle dre, in einer Mischung von Bewunderung und Abwehr von einer ungewöhnlichen Mutter gefangen hielt.

Mein Bruder Wanja, der hoch begabte und bevorzugte Älteste, machte die meisten Probleme. Die gegenseitige Abhängigkeit von seiner „Pirlipata“ führte oft zu grotesken Szenen, die mir als erstaunter Zuschauerin in irrealer Dramatik geblieben sind. Er hatte sich dafür einige „Auftritte“ ausgedacht, um den jeweils beabsichtigten Effekt bei seiner Mutter zu erreichen. Sauste er beispielsweise in der Beweglichkeit seiner Teenager-Jahre in rasender Schnelligkeit auf den Knien rutschend von aussen zur Küchentüre herein, warf sich meine Mutter vor Schreck rücklings auf den Tisch, schrie und strampelte mit den Beinen in der Luft – ein eingespielter Genuss für beide.

Diese unentbehrliche und lebenslange Hass-Liebe hat mich oft mit Befremden erfüllt, da auch ich seinen phantastischen Manipulationen in Konkurrenz mit der jüngeren Schwester ausgesetzt war. Derweil hatte ich mir meine erst viel später als schlecht erkannte Taktik für die vermehrte Beachtung in der Zuneigung seitens meiner Eltern zugelegt, indem ich mir längere Perioden des Krankseins angewöhnte.

In den Vorkriegsjahren erlebten wir letzte Ferien im jährlich besuchten Paradies unserer Kindheit, dem grosselterlichen Landgut Schackenhof bei Mamsiks , von ihr wenig geschätzter Mutter, von mir aber sehr geliebten „golubenkaja“ oder „hellblauen Babuschka“.

Der zweite Weltkrieg vor den Grenzen der Schweiz brachte – neben der Sorge meiner Eltern um nahe Verwandte, ihrer Flucht vor den einmarschierenden Russen und dem Verlust von Schackenhof – auch ein starkes Bewusstsein von der Existenz der deutschen Konzentrationslager. Wanja hatte sich ausgerechnet, dass wir trotz russischer Vergangenheit der Familie infolge eines unserer Urgrossväter Moritz Phillipowitsch Marc zu einem Zweiunddreissigstel jüdisch-deutsches Blut in unseren Adern hatten neben unserem französisch-holländischen. Dies hat meine Beziehung zu jüdischen Menschen für immer verstärkt.

Als jeder von uns in den Kriegsjahren mehr und mehr seine eigenen Wege ging und mein Pingpong-Freund Heini zu meiner insgeheimen Jugendliebe geworden war, schickte Mamsik Wanja und mich zusammen in Frau Bickels berühmte Tanzschule in der Basler Eisfabrik. Mein Tanzpartner Wanja schenkte mir galant mein erstes Fläschlein Parfum, was mich enorm gefreut hat.

Aufmerksam gemacht durch einen meiner frühen Verehrer, der meine immer noch gerippten, unzeitgemässen Wollstrümpfe und die mir fehlenden Jungmädchen-Absätze meiner Schuhe beanstandet hatte, wurde ich allmählich gewahr, dass Mamsik das Heranwachsen ihrer zwei Töchter übersah. Sie sonnte sich noch bis ins höhere Alter in der Verehrung meist homosexueller Freunde, die ihr Orchideen brachten.

Der sittenstrenge Papsik hingegen nutzte den Anlass eines Tanzabends in unserem Hause, indem er demonstrativ meinen ersten, mir von den eingeladenen Schulfreundinnen geschenkten Lippenstift, vor meinen Augen in den Mülleimer warf.

Die acht Jahre im „Affenkasten“, dem Mädchengymnasium am Kohlenberg, erlebte ich als abrupten Absturz nach der glücklichen Primarschulzeit unter der genialen Lehrerin Esther Gutknecht und meiner besten Freundin Sylvia. Die Zeit der Pubertät brachte mir viele unausgesprochene Fragen über Religion, Philosophie und Sexualität zum Bewusstsein. Ohne eine tiefere Anteilnahme seitens meiner Mutter oder einem vertrauenswürdigen Leitbild in der Lehrerschaft fühlte ich mich in meinem Anders-Sein allein gelassen.

Die vielen diesbezüglichen Diskussionen auf der täglichen Tramfahrt in die Stadt, mit meiner Schulfreundin Fränzi, fanden leider auch bald ein Ende. Die katholische Gouvernante des Hess’schen Haushalts befürchtete meinen schlechten Einfluss auf Fränzi und hatte ihr derlei Gespräche mit mir verboten. Dass anderseits der fanatische Protestantenpfarrer Noll während unseres Konfirmandenunterrichts im ungeheizten Nebenraum seines Kirchleins mit mahnendem Zeigefinger uns vor Freundschaft und Heirat mit Katholiken warnte, verstärkte nur meine Zweifel an den religiösen Dogmen. Die Zerrissenheit in diesen Fragen in dem schönen Arlesheimer Wohnort mit seinem prächtigen barocken Dom störte mich. Ich tröstete mich dann in Gedanken, dass ich sowieso nicht hierher, sondern in die Stadt Basel gehörte.

Zum Eintritt Wanjas in die verhasste Rekrutenschule nach seiner Matur schenkte ihm Mama zum Trost einen Aquarellkasten, den er ihr jedoch bald zurückgab. Neugierig machte Mamsik einen Versuch mit Pinsel und Farbe und freute sich über das unerwartete Resultat. Sie, die nie einen Zeichnungsunterricht, weder im russischen Gymnasium für Griechisch und Latein, noch danach in den deutschen Internaten genossen hatte, entdeckte plötzlich mehr und mehr ihren eigenen Weg.

Bis jetzt hatte sie höchstens ihre russischen Briefe an uns in ihrer markanten Handschrift mit dem Schnörkel einer Hieroglyphe unterschrieben, einem gezeichneten Fuchs „Lissitschka“ für mich und einem Fisch „Rybka“ für Karin. Der Besuch eines Damentees in Münchenstein, bei der pädagogisch geschickten Malerin Getrud Schwabe zur Erlernung einer technischen Grundlage, war die Geburtsstunde für die explosive Entwicklung zur Malerin, die Mamsik von nun an zum alles bestimmenden Lebensinhalt wurde.

Zwei Jahre nach dem Tode meiner Mutter bat mich mein Vater 1983, einen Katalog über Mamas Lebenswerk zu machen. Er wollte darin nicht nur seine ganz persönliche Biographie über sie veröffentlicht wissen, sondern eine grosse Retrospektive im schönen, heute zum Restaurant der Fondation Beyeler gewordenen Ausstellungshaus in Riehen organisieren. Meine Schwester Karin würde sich dagegen einer guten Hängung der Bilder annehmen.

Das machte ich gerne. Ich wählte die „Highlights“ ihres Lebenswerks aus, mit den wechselnden Phasen zartester Collagen in Mischtechnik, leuchtenden und ausdrucksstarken Ölbildern, Glasfenstern für die Kapelle in lncella und textilen Wandbehängen aus. Sie alle sind Beispiele für die charakteristische Vielfalt von Mamsiks Persönlichkeit. Im Katalog veröffentlichte ihr beeindruckendes, frühes Stillleben der rot-grün-gelben Peperoni von 1941, wie auch den surrealen, ihr gewidmete Text von Jean Arp als passender Kommentar zu einer Strichzeichnung. Auch einige ihrer Flaschenbilder aus der Übergangszeit zwischen Figürlichkeit und Abstraktion und ein Text der Kunsthistorikerin Dorothea Christ für die Einführung gehören dazu.

Es bleibt unvergessen, wie Papa stundenlang in Riehen neben der Eingangstüre beim Tischlein mit dem Blumenstrauss und den Katalogen sass und den Ansturm der Besucher ,wie auch den Verkauf der Bilder genoss. Er, der getreue Wegbereiter für seine Madja, hat sie noch sieben Jahre überlebt.

Heute sehe ich nicht nur die „alten Bilder“ meines Gedichts über die frühen Arlesheimer Jahre mit Mamsik. Den Zeitpunkt vom Abbruch der Ausbildung von Karin und mir an der Kunstgewerbeschule und an der Universität, unsere fast gleichzeitige frühe Verheiratung und die Geburten von je zwei Kindern sind auch die Jahre von Mamas vollem Einsatz für ihre Karriere gewesen, während der sie über vierzig Einzelausstellungen im In – und – Ausland hatte.

Da sie unsern Weggang schlecht ertrug, hatte Papa unser originelles, zu gross gewordenes Elternhaus verkauft und liess ein kleineres Haus mit Schwerpunkt Atelier erstellen. Diesem folgten später weitere Ateliers in Basel, im Tessin, in Italien und zuletzt wieder in der Stadt Basel.

Sei es Mamsiks direkter Einfluss, oder eine logische Weitergabe ihrer Gene, ihre Nachkommen machten ihre persönliche Entwicklung alle ähnlich der ihren in der Lebensmitte durch: Mein Bruder Wanja, dem Gärten schon immer seine grösste Leidenschaft gegolten hatte, besuchte 1970 Kyoto, wo er die japanische Gartenkunst hautnah erlebte. Er war so beeindruckt, dass er seine gut gehende Werbeagentur mit 44 Angestellten für eine lebenslange Rente verkaufte und sich in London beim berühmten John Brooks für „garden design“ ausbilden liess. Von diesem Moment an war sein Briefkopf grün, seine Hüte aus Stroh und der Gartengestalter sowie der „Paesaggista Dr.Ivan Ruperti“ geboren. Nicht genug des Wechsels, wurde er zum vielgefragten Reiseleiter für Kultur-und Gartenreisen, Animator und mehrfachem Haus-Erbauer für sich und andere.

Schwester Karin, die den Dr. phil. gemacht hatte, wurde nach ihrer Scheidung zu einer ebenso besessenen Malerin gekonnter wie dekorativer Acrylbilder und ich zu all dem, was in dieser Niederschrift zu lesen ist.

Nicht genug damit, aus unserem Sohn Stephan ist vom anfänglichen Filmemacher ein buddhistischen Mönch im kalifornischen Mount Shasta geworden, bis er auch seinen Weihe als Zen-Priester erhielt. Nach seiner Verheiratung, der Rückkehr in die Schweiz, der Gründung seiner CKDT genannten PR-Agentur in Allschwil wurde er endgültig ein Weltenbürger. Er hat sich mit seiner amerikanischen Frau und Tochter wiederum expatriiert und liess sich als Landbesitzer im kanadischen Vancouver Island nieder.

Unsere Tochter Ariane hingegen ist wohl die Einzige, die nicht sehr viele Ruperti-van Rijckevorsel-Gene weiterträgt. Sie war verheiratet mit dem Brasilianer Marcilio dos Santos von Rio de Janeiro und gebar in Basel ihre gemeinsame Tochter Cileia. Nach der endgültigen Rückkehr in die Schweiz und ihre Scheidung leistete sie einen Jahrzehnte dauernden engagierten Einsatz als Sozialarbeiterin gegen die Gewalt in Familie und Gesellschaft.

Dabei kamen ihr weniger die grossmütterlichen Eigenschaften der Rupertis zugute, als die juristischen Führungsstärken der Familie lselin, der andern Grossmutter-Seite. Doch hat sie auch die ererbte Musikalität ihres Juristen-Vaters voll ausgelebt, die sie wie er schon immer berufsbegleitend ausgeübt hat. Auch sie hat sich mit 55 Jahren selbstständig gemacht und ist privat als Beraterin in Ihrem Fachgebiet tätig. Dabei ist sie noch immer die verantwortungsvolle Mutter für ihre Tochter und für uns die Nachfolgerin in unserem geliebten Zeininger-Häuschen und Garten geblieben. Dabei erfreut sie sich mehr denn je singend und spielend mit verschiedensten Freundinnen, Freunden und Instrumenten ihres Lebens.