Marischa beschreibt ihre Kindheit

 

Ich bin Zeit meines Lebens neugierig gewesen und bin es bis heute geblieben. Neugierig auf andere Menschen und neue Erfahrungen. Was mir fehlte, war eine Lebensplanung, Ziele, die es zu verfolgen gab. Das Leben entwickelte sich von selbst wie ein vom Tisch gefallener Wunderknäuel, von einer Katze im Spiel zerzaust, hie und da einen seiner verborgenen Schätze preisgebend. Als zweijährige in die Schweiz gekommen, hiess es, vom vertrauten Russischen hinein zu wachsen in das Fremde der deutschsprachigen Schweiz. Das war weit weg von der Geborgenheit einer Grossfamilie, die nach der Vertreibung durch die Russische Revolution im Gutshaus „Schackenhof“ nahe der polnischen Grenze gelebt hatte.

Die wertvollsten Erinnerungen an meine Kindheit kreisen um die Schackenhof-Jahre 1930 bis 1938.

Zwei Tage und eine Nacht mit der Eisenbahn, dann waren wir wieder in Schackenhof, dem Gut meiner Grosseltern in Polen. Dort gab es all das, was wir in der Schweiz entbehrten: Den unendlich weiten Horizont, eine Grossfamilie, einen Gutsbetrieb mit Ländereien, Viehzucht und einem Dorf, in feudaler Abhängigkeit mit dem Herrenhaus verbunden, Überbleibsel einer reichen, grossrussischen Vergangenheit.

Schackenhof hatte einen grossen Keller mit einer Küche voller Rauch und Flammen. Eine der Mägde war taubstumm, ging ich vorbei, spuckte sie dreimal über die linke Schulter. Der Gang zum Bügelzimmer widerhallte mit Gusseisenplatten. Darunter sei das Blut der gejagten Tiere, wusste Wanja, mein Bruder.

Auch der Estrich war riesig, in den Ecken mit Bretterverschlägen. Darin der Fleckschimmel mit echtem Fell, mein Freund, das Schaukelpferd. Das gab mir den Mut, unter den Drähten mit den Fuchsschwänzen hindurch in den Turm zu rennen, einer Sternwarte mit einer Halbkugel als Dach. Onkel Juri öffnete einen Schlitz und richtete das Fernrohr hinaus in die Schwärze der Nacht. Er hob mich hoch und liess mich den grossen Bären suchen. Ich fand ihn nie, nur viele viele Sterne.

Die Bibliothek hatte Bücher bis zur Decke. Innen hatten sie Flecken oder seltsame Bilder, wie den Kopf des Johannes auf einer Platte für Salat. Das Licht war dunkelgrün, wegen dem grünen Filz auf den Fensterbänken und den grünen Vorhängen. Dort sass ich stundenlang mit Nils Holgerson, Ritter Blaubart, Robinson Crusoe, oder ging mit Peterchen auf Mondfahrt.

Der Hof, durch eine Treppe vom Herrenhaus getrennt, war das uns eigentlich Fremde, das nie endende Abenteuer Da war der Schreiner, der mein Puppenbett machte, und der Schmied mit dem fauchenden Feuer mit dem er das Eisen zum Glühen brachte und den Pferden noch warm an die Hufe schlug. Da leckten die Kälber das Salz mit stachligen Zungen, da klapperten Störche, quiekten Ferkel, kollerte der Truthahn.

Und da war der Kutscher. Wurden wieder Jungpferde verkauft, flocht er ihnen Mähnen und Schwänze, striegelte Karomuster auf ihr Hinterteil, zog ihnen das geweisste Zaumzeug über die Nüstern und führte sie vor. Wir standen alle im Kreis, Grosspapa weiss angezogen in der Mitte, mit Reitstiefeln, Tropenhelm und Monokel. War alles vorbei, zog der Kutscher seine Livree aus und fluchte ,,Psiakrew cholera“, das einzige Polnisch, das ich lernte.

Weil Grosspapa gerne Tauben zur Vorspeise ass, stand auf dem Hof auch ein Taubenschlag. Die Leiter war hoch, man musste sich festhalten. Oben flatterte es und innen war es staubig, finster und es roch. Überall halbnackte Taubenjunge voller Federkiele. Sie lagen herum, heiss, mit dicken Kröpfen. Hie und da fand ein kaltes Kücken. Mein Bruder fasste es am Zeh und wir legten es in eine Schuhschachtel und begruben es unter der grossen Linde, da war es am schönsten. Niemand wusste davon, nur wir.

Ich hatte drei Babuschkas (Grossmütter): Mamas Mama, die „golubenjkaja“ oder hellblaue, Papas Mama, die „belenjkaja“ oder weisse, Grosspapas Mutter, die „starenjkaja“ oder alte. Meine Urgrossmutter hatte meiner Mutter beigebracht, wie man Fotos vergrössert, aber jetzt war sie nur noch halb so gross wie die andern und ziemlich zerknittert, nur die Nase nicht. In ihrem Damenzimmer war ein Pult mit Rolldeckel und darin eine Schachtel winzig kleiner ,,Birulkis“, gedrechselten Gegenständen aus Elfenbein, einem Zitterspiel zum Herausfischen mit einem Häkchen.

Die alte Grossmama sass im Esszimmer zuoberst an der langen Tafel beim Samowar, dort wo man uns knixen liess zum Dank. Nach dem Essen holte sie im Office altes Brot und den Sonnenschirm mit dem Hohlsaum. Wenn sie sich im Hühnerstall aufs Bänkchen setzte und Brotkrümel streute, sass sie wie in einer Wolke voll Gegacker und weissen Federn. Als sie später blind geworden war und wir nicht mehr nach Schackenhof kommen konnten, weil der Krieg begonnen hatte, lernte sie Teppiche weben und Maschine schreiben. Ich bekam Briefe mit lauter Grossbuchstaben. Die Sätze liefen über den Rand, man musste sie zu Ende raten.

Mein Bruder Wanja hatte es unten am Bauch und ich hatte das nicht. Es hiess bei uns auf russisch „Kränzik“ (Wasserhahn) da wir alle russisch sprachen damals in Polen, oder deutsch und manchmal manche auch französisch Auf der kleinen Dachterrasse hatte es viele Muscheln und Versteinerungen. Mein Bruder sagte es seien alles versteinerte „Kränziki“. Als ich durch das Dachfenster kletterte, um sie näher anzusehen, lagen da die weisse Babuschka und Mama auf den Versteinerungen in der Sonne. Sie waren beide nackt und sehr rosa. Ich zog den Kopf zurück und genierte mich.

Kapsa ist in Moskau Mamas „Njanja“ (Kinderbetreuerin) gewesen. Einmal nähte sie mir einen Elefanten mit Stosszähnen aus weissem Handschuhleder. Kapsa hatte flaumige Wangen und einen Haarknoten voll Nadeln aus Horn. Ging sie zu den Bienen, stülpte sie einen Gitterkübel über ihren Kopf und zog Schubladen voller Honig aus dem Bienenhaus. Die Bienen krabbelten aufgeregt über das Drahtnetz und es dröhnte gefährlich. Waren die Waben ausgeschwungen, steckte uns Kapsa ein Stück davon in den Mund. Wir saugten daran, bis nur noch das Wachs unsere Zähne verklebte.

Gegen Sommerende schritten die Schnitter tagelang durch die gelben Wogen der Weizenfelder. Jetzt war der Himmel noch höher über die endlosen Stoppelfelder gerutscht, auf denen überall Strohhaufen aufgebaut waren. Bald feierte man das Ernte-Dank-Fest. Es wimmelte von Menschen und Fuhrwerken. Bauern reichten Gabeln voller Halme hinauf zur ratternden Dreschmaschine und die Luft war voller Staub.

Wir waren gekommen, Seidenbänder von den Bauersfrauen zu kaufen, Tribut der Herrschaft an das Dorffest. Warum guckten die Frauen nur so, wenn sie uns die breiten Bänder an die Schultern steckten, guckten voller Neugier aus dem Schatten ihrer Kartonröhren unter bunt geblumtem Stoff. Doch wir kicherten, kicherten und rannten los, mit dem Rot und Grün, dem Orange, Blau und Violette unserer Freudenfahnen über gelben Stoppeln.

Im zweiten Weltkrieg flohen die Bewohner Schackenhofs zusammen mit den Dorfbewohnern und allem  Grossvieh in langem Treck vor den Russen. Das ausgeraubte Gutshaus im kahlgeschlagenen Park wurde ein Kreisspital. Später wohnte die weisse Babuschka, Fanny Ruperti, oft bei uns in der Schweiz. Sie begann, ihr Leben vor der Russischen Revolution aufzuschreiben. Sie beschrieb die Wettfahrt von Moskau nach London in Grosspapas Auto „Serpoljot“. Ihr Hutkarton wurde ins Reserverad eingebaut. So brachte sie ihre Straussenfederhüte unbeschadet von Fest zu Fest. Leider schrieb sie das Heft nie zu Ende.

Weil ich von den jährlichen Ferienaufenthalten in Schackenhof – bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs – wertvolle Erinnerungen in unser Kleinbasler Reihenhaus heimbrachte, war auch der Schweizer Alltag bei uns interessanter als in all den andern Familien.

Wir hatten keine Zöpfe, trugen keine Schürzen, hatten keine Tanten in schwarzen Kleidern, aber eine schöne Mutter. Sie inszenierte mit meinem Vater und Basler Künstlerfreunden wilde Maskenfeste, stellte ein Bäumchen in die Trommel der Waschmaschine, an die sie Orangen band, dekorierte die Räume mit Efeu, Krepp-Papier und bunten Fasnachts-Schlangen und liess dazu als Diskjockey Musik aus doppelt gelöcherten Grammophonplatten heulen.

Im elterlichen Schlafzimmer standen Bauhausmöbel, orange und schwarz gelackt. Beim Esstisch hing an der Wand die gedruckt Kopie eines grossen Moskauer Winterbildes mit in der Kälte prustenden Schlittenpferden.

Auch wir Kinder gaben Einladungen zu unsern Geburtstagen. Dann wurde leidenschaftlich um eine verschnürte Riesentafel Schweizer Schokolade gewürfelt, oder es gab im Garten Sackhüpfen in Kohlensäcken und Wettrennen mit rohen Eiern auf Suppenlöffeln.

In jeder freien Stunde wurde gebastelt, gezeichnet, gemalt und geknetet. Meine jüngere Schwester Karin und ich schnitten Figuren mit beweglichen Gliedern aus schwarzem Papier, versuchten mit Stecknadeln zu stricken oder malten das Weiss vom Schnee entlang der Winterzweige gezeichneter Bäume. Mit Hilfe einer Laubsäge entstanden Zwerge auf Fussbrettchen, denen wir aus dem Brei einer zerstampften Halskette phosphoreszierende Augen in die Gesichter klebten, bis eines Tages unsere künstlerische Arbeitsgemeinschaft, die wir „Felsen“ nannten, einen Riss erhielt, als Karin die Kleider meiner Lieblingspuppe zerschnitt.

Bruder Wanja webte mir zum Trost ein kleines steifes Gilet auf einem Spielrahmen, webte auch Puppenteppiche und Hüllen für Nadelkissen aus den bunten Wollfäden, die unser Vater sackweise von den Farbversuchen der Ciba nachhause brachte. Wanja mauerte mit der jeweils favorisierten Schwester die andere in einen Turm aus grossen hölzernen Bauklötzen ein, aus dem sie sich zuletzt mit allseitigem halloo und Armefuchteln befreien durfte. Noch lieber aber waren ihm die Streifzüge durch den Auenwald der „Langen Erlen“ auf der Pirsch nach Molchen für seine Terrarien.

Wurde ein Behälter vergessen, mussten meine ausgezogenen Unterhöschen mit zugehaltenen Beinöffnungen als Transportbehälter für die glitschigen Viecher dienen, die regelmässig aus ihrem Gefängnis entwischten und dann vertrocknet und voller Staub unter Wanjas Bett aufgefunden wurden.