Marischa beschreibt ihre Schulzeit

Ich war zehn Jahre alt, als wir unser Kleinbasler Miethaus verliessen und in Arlesheim das eigentliche Elternhaus meiner Jugend bezogen. Mein Vater hatte als visionärer Lebenskünstler ein grosses Landstück mit einem Quadratmeterpreis von sieben Franken (!) erworben und mit Hilfe des von uns Kindern „Ärnschtli“ genannten Architekten Ernst Egeler dessen erstes Hausprojekt verwirklicht. Es war ein haushälterisch konzipiertes, originelles Eckhaus mit Wohn- und Schlafteil, dessen Architekturmodell aus Plastilin mein Vater umgehend mit dem Küchenmesser verkürzte, um es finanzieren zu können.

Dass mein Vater von Arlesheim auf seinen Arbeitsweg in die Ciba, wie auch ich meinen Schulweg vom Aeschenplatz in das Rosentalschulhaus, täglich zu Fuss gehen musste, war für ihn eine selbstverständliche Sparmassnahme zur Ermöglichung unserer Lebensweise.

Da meine Schwester Karin jetzt in die Arlesheimer Primarschule, eintrat, gingen unsere Wege in der beginnenden Pubertät mehr und mehr auseinander. Mein neuer weiterer Schulweg, für meine labile Gesundheit nicht eben förderlich, verschaffte mir während meiner vierten Primarklasse eine wöchentliche Einladung über Mittag in das kultivierte Zuhause meiner Lehrerin, ihrem gestrengen Vater und Arzt Dr. Gutknecht. Ich durfte mir kein noch so unterdrücktes Hüsteln am Mittagstisch erlauben. Jahre später erhielt ich von ihm ein mir testamentarisch vermachtes, silbernes Pillendöschen, was mich sehr berührte.

In der letzten Primarschul-Klasse kam ein einmaliges Unternehmen zwischen Lehrerin und Schülerinnen zustande. Wir hatten zwei Jahre lang mit grosser Begeisterung intensiv an einer einfachen Form eines Musicals gearbeitet, die Kinder mit Textvorschlägen, Fräulein Gutknecht mit Reimhilfe, erdachten Melodien und musikalischer Bearbeitung. Als auch der Titel „Im Puppenladen“ stand, wurde ich zur Puppe „Mimi“ mit Schleife im Haar, deren vorgeschriebene, verkrampfte Puppen-Fingerstellung mir bis heute intus ist. Als das Spiel im Waisenhaus zur Aufführung kam und in der Zeitung meine helle Singstimme erwähnt wurde, platzte ich fast vor Glück.

Mit dem Wechsel von der Stadt aufs Land setzte auch eine literarische Bewusstwerdung ein. Die poetischen russischen Märchen vom Feuervogel und Baba Jaga im dreibeinigen Hexenhäuschen waren schon lange von den grimmigen deutschen Märchen verdrängt worden. Nach Dr. Doolittles liebenswerten Gestalten und dem kleinen Nils Holgersson folgte jetzt Buch um Buch, die ich statt zu schlafen verbotenerweise mit im Bett versteckter Nachttischlampe verschlang, bis mich braune Brandflecken im Versteck des über den Kopf gezogenen Leintuchs verrieten.

Der Eintritt ins Mädchengymnasium brachte den jähen Absturz. Ich wurde „auf Probe“ befördert und erhielt zugleich den Zeugnisvermerk: ,,Gibt zu Tadel Anlass“. Alle acht folgenden Jahre, in denen ich dank der speziellen Schneiderkünste meiner Mutter und einem damals nicht üblichen Bubikopf voller Locken durch Andersartigkeit auffiel, behielt ich den Bewertungen des Gymnasiums gegenüber einen bleibenden Vorbehalt.

Unsere Eltern hatten bestimmt, dass ich und meine beiden Geschwister die Schule mit der B-Matur abschliessen sollten, da ihnen  Griechisch und Latein für ihr Leben wenig gebracht hatte. Als Marliese Staehelin, eine Freundin, wie andere in die Lateinklasse wechselte, wäre ich gerne dabei gewesen; das Latein hat mir später für mein Sprachverständnis sehr gefehlt. Dabei schadeten die für die Schulleitung ungewohnten Interventionen meiner hochdeutsch sprechenden Eltern mehr als dass sie nutzten. In meiner Klasse, die sich zum Teil aus dörflichen Braven und zum andern aus  weiter entwickelten „Backfischen“ mit langer Haartolle und kunstseidenen Strümpfen zusammensetzte, hielt ich in der selbstgewählten Rolle eines Klassenclowns die schwebende Mitte.

Schwierig waren für mich meine religiösen Zweifel, bei denen ich mich alleingelassen fühlte. Meine Eltern verschlossen sich aus eigener Unsicherheit einem Dialog und ich war im damals erzkatholischen Arlesheim der protestantischen Kirche zugehörig, wo Pfarrer Noll sein Zepter schwang. Als ich während der Kriegszeit im ungeheizten Nebengebäude seines Kirchleins den Konfirmandenunterricht besuchte, schockierte mich sein mir unverständliches Gebot Nummer Eins: ,,Heiratet nie einen Katholiken!“

Trost war nur die Anwesenheit meiner Jugendliebe Heini Seiberth, mit dem ich jahrelang schönste Stunden mit Pingpong-Spielen verbrachte. Die Konfirmation mit dem obligaten kleinen Schleier auf meinen Haaren lag mir in meiner unverarbeiteten Religiosität schwer auf dem Herzen. Auch waren meiner lieben Schulfreundin Fränzi, einer Katholikin, die Diskussion über Glaubensfragen, während der Bahnfahrten in die Stadt von einer rigorosen Gouvernante im Umgang mit mir verboten worden. So trösteten mich nur die elterlichen Konfirmationsgeschenke, eine reizende schmale Damen-Gitarre französischer Machart samt Gitarren-Unterricht – und zwei heiss ersehnte Kunstbücher über Michelangelo und Pieter Brueghel.

Das Gefühl eines inneren nicht Dazugehörens war mir ebenso vertraut, wie jene überschäumenden Momente, wenn ich beispielsweise am Schlussabend eines Sommerlagers bei unserem Mathematiklehrer während der Vorführung eines Flohzirkus im seinem Haar den ausgerissenen Floh zu finden mimte.

In den unteren Klassen fand ich Rückhalt im Zeichnen, ebenso wie mit meiner Alt-Zwei Stimme im Elitesingen, bei den oberen in den faszinierenden Experimenten der Biologie. Geblieben davon ist der Eindruck des von mir sezierten und mit Nadeln aufgespiessten kleinen Froschkörpers, dessen menschenähnlicher Aufbau mich tief beeindruckte und den ich respektvoll porträtierte.

Schön war auch, wenn ich in den Deutschstunden vor der Klasse meine Aufsätze vorlesen durfte. Trotzdem war ich masslos überrascht, als mir unser Deutschlehrer gegen Ende der siebten Klasse nahelegte, meine Quartalsarbeit dem Feuilleton-Redaktor der Basler Nachrichten, Herrn Dr.Knuchel vorzulegen. Geraten, getan. Mein Text erschien in einer der sonntäglichen Beilage, dem andere folgten.

In der Kriegszeit und den Jahren in Arlesheim begann sich die Welt zu verändern. Nicht nur, dass ich bar jeder sexuellen Aufklärung durch die Eltern, mich turbulenten Fragen und einem grauslichen Mix von Halbwahrheiten durch den älteren Bruder ausgesetzt fühlte. Auch die Nachrichten aus dem umliegenden Europa wurden immer bedrohlicher.

Meine Eltern besprachen mit gedämpften Stimmen die zensurierten Briefe aus Polen mit den zerstümmelten Zeilen und die schon in den Vorkriegsjahren erfolgte, erschreckende Berichterstattung des Basler Chef-Redaktors Dr. Oeri über die jüdischen Konzentrationslager.

Am meisten trauerten meine Eltern gegen Ende des zweiten Weltkrieges über die endgültige Flucht aller Bewohner vor Schackenhof vor den einmarschierenden Russen. Aus Furcht vor einer Invasion der Nazis verliessen in Basel viele Familien meiner Klassen-Kameradinnen die Stadt, während meine Eltern aus Mangel an Verwandtschaft in der lnnerschweiz sich mit dem Kauf von Rucksäcken für uns drei Kinder begnügen mussten, welche wir mit gemischten Gefühlen mit Namen und Adresse versahen.

Dennoch war Arlesheim als Wohnort für die Eltern und uns Drei ideal. Nahe der umgebenden Natur mit Wald, Burgruinen und der Beobachtung des bärtigen Eremiten „Schlangenhansi“ bei seiner Jagd nach Blindschleichen und Vipern im Arlesheimer Steinbruch, trug auch die behördlich befohlene „Anbauschlacht“ in unserem Garten ihre Früchte.

Zusammen mit meinem initiativen Bruder baute ich nach und nach aus ergatterten Eierkisten Ställe für siebenundzwanzig Kaninchen. Das Sauberhalten gehörte zu meinen schwesterlichen Pflichten, ebenso wie das verabscheute Auskämmen der wertvollen weissen Haare der Angoras mit den schreckerfüllten roten Augen. Der kriegsbedingte Höchstpreis dieser Wolle wurde von Wanja in einem Faltboot angelegt, in dem ich ihn zur Belohnung auf dem Rhein flussaufwärts paddeln durfte.

Eine andere Einnahmenquelle war für ihn der Verkauf vonGänsen, die einmal als gelbe Flaumhäufchen ihre Existenz begonnen hatten und uns, gross und fett geworden, mit einer Unmenge Gänsefutter im Stosskarren, megalautem Geschnatter und einem kotverkleckerten Gemüsegarten in Atem hielten.

Die Verteilung dieser Fronarbeiten an die charakterlich verschiedenen Schwestern, mit der unausgesprochenen Androhung des Liebesentzugs, war ein raffiniertes Spiel der diplomatischen Fähigkeiten meines Bruders, das unsere schwesterliche Einheit allmählich entzweite.

Karin entzog sich ihm mit dem Erschaffen eines originellen Bilderbuchs, das ich noch heute bewundere. Dieser romantische „Mulingo auf dem Meeresgrund“ ist in seinem Wesen der rote Faden für ihr ganzes späteres Leben geblieben, für eine der realen Welt abgewandte, intensive und kindliche Fantasie, die sie im Verlauf ihres Malerinnen-Lebens immer mehr zu steigern vermochte.

Ich hingegen belohnte mich nach diesen Fronarbeiten mit dem Verfassen meiner Geschichten, oder dem Vorspiel auf der Blockflöte für eine kleine Eidechse im Terrarium eines Waschzubers, die zu meinem Entzücken minutenlang mit schräg gehaltenem Köpfchen zuzuhören pflegte.

 

Nach Kriegsende kamen mehr und mehr Gäste aus dem Ausland zu uns nach Arlesheim und wir gewöhnten uns an das Begegnen von interessanten und vielsprachigen Menschen. Auch unsere beiden heimatlos gewordenen Grossmütter wechselten sich mit dreimonatigen Aufenthalten bei uns ab, wobei mir die ehemals als junge Frau extrem verwöhnte „weisse Babuschka“ durch die selbstverständliche Mithilfe im Haushalt und besonders durch ihre leckeren Schichttorten in liebevoller Erinnerung geblieben ist.

In den Sommern wurde die Tradition der Kleinbasler Feste wieder aufgenommen, jetzt angereichert mit den „Danses phantastiques“ meines Bruders als grotesker „gespaltener Mann“ mit bis über die Schultern hochgezogenen Trainerhosen. Auch seine dramatischen Interpretationen von Tschaikowskys „Pathetique“wurden bei unseren Hausfesten dargeboten, als Tanz  auf der runden Tischplatte, die sonst unserem Essen unter dem Nussbaum diente.

Mehrmals kam Jean Arp zu uns, ein liebenswerter Gast und für mich die erste Begegnung mit einem international bekannten Künstler, der herrlich zu erzählen verstand.

In Basel holte mich jeweils der Schultag wieder ein. Dabei lag ich immer wieder monatelang mit leichten Fiebern im Bett. Es wurde mir erst nach Jahrzehnten klar, dass ich mit diesem ewigen Kränkeln unbewusst mehr Beachtung seitens meiner Eltern zu ergattern suchte. Im Sandwich zwischen zwei Geschwistern und unter einer dominierenden Mutter fehlte mir das nötige Selbstbewusstsein für eine aktive Berufswahl und Lebensgestaltung.

Als ich während der Maturprüfung verbotenerweise einer hilflosen Mitschülerin das gesuchte Englischwort einblies, liess man uns nicht etwa die Prüfung wiederholen, sondern entliess jenes Mädchen mit Note 2 und mich mit Note 6, zusammen mit einem niederträchtigen rektoralen Fusstritt ins Leben. Innerlich zerschmettert blieb ich nach der empörten Stellungnahme meiner Eltern der Maturreise unter Leitung der Englischlehrerin fern.

Ich bin mir nicht sicher, ob die Beobachtung richtig ist, dass die Jahre nach Schulende und die Entscheidung für eine Berufswahl für viele junge Mädchen eine Zeit grosser Anspannung, Unsicherheit und Zweifel darstellt, die auch zu depressiven Stimmungen führen kann, besonders, wenn man sich als Frau noch nicht erlebt hat. Da mir damals der Wunsch zum Besuch der Dolmetscherschule in Genf, aus angeblich finanziellen Gründen nicht erfüllt wurde, während Brüderchen Wanja in Paris studieren konnte, schrieb ich mich für zwei Semester bei den Phil-Einsern an der Universität Basel ein.

Ich tat das nur mit halbem Herzen, meiner unterschiedlichen Veranlagungen und Interessen bewusst, die mir ebenso künstlerische wie intellektuelle Möglichkeiten vorspiegelten, für welche mir aber die Vorbilder fehlten. Als mich die mit meinen Eltern befreundete Professorin Elisaweta Eduardowna als uninteressierte Studentin verpetzte, verliess ich enttàuscht die Uni enttäuscht.

Nach ein paar Versuchen beim Aktzeichnen auf Anraten meiner Mutter und einer kurzen Übersetzerstelle „zum Geld verdienen“ landete ich dann zwar sehr verliebt, aber ziemlich unvermittelt in den Armen des lebenslustigen Jurastudenten Lukas Burckhardt.

Wir heirateten mit dem väterlichen Segen, da Papa als Emigrant der russischen Revolution und ebenso mittellos auch als Doktorand geheiratet hatte. Ich war jetzt 21, Lukas 24 Jahre alt, jung genug, um zusammen zu wachsen und miteinander erwachsen zu werden.