Kurze Moskau-Reise im Jahre 1972

In vier Tagen erlebten Adalberto und ich Dinge, die für die damalige Sowjetunion charakteristisch waren. Rückblickend dürfte das heute wahrscheinlich recht interessant sein.

Ebenso wie das ganze Sowjetreich, beruhte auch das von uns bewohnte Hotel Rosija (Russland) auf Illusionen – verbunden mit ökonomisch falschen Voraussetzungen.  Chrutschew hatte angeordnet, einen historisch wertvollen Stadtteil vollständig abzutragen. An seiner Stelle wurde dieses monströse Hotel erbaut und im Jahre 1967 als stolzes Punkstück der Sowjetunion eröffnet. Es ist heute noch im Guiness-Buch der Rekorde als das weltweit grösste, je gebaute Hotel verzeichnet.

Das in absurder Weise betriebene Hotel begann bald zusehend zu vergammeln. Das ging so weit, dass der hässliche Beton-Klotz zuletzt wieder abgetragen werden musste. Auf dem zentral gelegenen, teuersten Baugrund von Moskau ist wieder ein erfreulicher Stadtteil entstanden.

Donnerstag, 21. September 1972  (Zürich – Moskau)

Mit einiger Verspätung fliegen wir endlich ab. Adalberto erkennt den Lago Maggiore, man sieht Brissago genau. Es wirkt irgendwie rührend, den eigenen Wohnort aus der Höhe eines Jet-Flugzeuges zu erkennen. Auch Lugano und die Autobahn sind gut zu sehen.

Zwischenlandung in Budapest. Der Barmann, bei dem wir Kaffee trinken, erkundigt sich, wohin wir fliegen. Nach Russland?  Nach unserer bejahenden Antwort sagt er: „Sie werden sehn, das Scheenste … die Rikkehr. Ja ist so – so fir Sie – fir raiche Laite, welche wollen schlecht haben fir gute Geld.“

Das russische Flugzeug hat keinen angemessenen Druckausgleich. Adalberto erlebt einen ziemlich schlechten Flug. Um 20h – 22h Moskauer Zeit – sind wir in Scheremetovo. Im öden Flughafen entsteht ein langes Palaver zwischen Intourist-Führerinnen und Zollbeamten. Lange Warterei! Leute packen umständlich Bier und Apfelsaft-Flaschen aus, die sie auf der anderen Seite der Schranke für uns aufstellen. Dann aber werden wir plötzlich, alle auf einmal, ohne weitere Kontrolle durchgelassen

Nach einigem Herumirren finden wir im Riesenklotz Hotel Rossija endlich  unser Zimmer am äussersten Ende eines endlos scheinenden Ganges. (Laut offiziellen Angaben beträgt die gesamte Länge der Korridore dieses Hotels nicht weniger als 8 Km.)

Wir unternehmen noch einen späten, nächtlichen Spaziergang auf dem beeindruckenden,  übergrossen „Roten Platz“. Er ist fast menschenleer. Selbst die würdigen Kremel-Mauern, die herrliche Basilius-Kathedrale und das grosse, lang-gestreckte Gebäude des GUM sind nicht wuchtig genug, um dem Platz in seiner Grösse das Gefühl eines umschlossenen Raumes zu verleihen. Schon auf diesem riesigen Platz glaubt man, die Weite und die Masslosigkeit Russlands zu erkennen.

Diese Masslosigkeit spüren wir auch im Hotel mit seinen 6’000 Gästebetten.  In der aufliegenden Broschüre wird stolz darauf hingewiesen, dass alles im „Westernstandard“ eingerichtet sei. So habe es unter anderem zu jedem Zimmer eine echte Badewanne.  Leider können wir diese jedoch nicht benützen: der Stöpsel zur Verhinderung von Wasserabfluss fehlt. Das herbeigerufene Personal verkündet unwirsch, es gäbe keinen Ersatz (in dem vor nur fünf Jahren erbauen Hotel !) .

Mit Material aus dem von früheren Gästen benützten und vom Personal nicht geleerten Papierkorb versuchen wir, das Abfluss-Loch zu verstopfen. Das gelingt zwar einigermassen, doch aus dem Hahn für warmes Wasser fliesst nur  kaltes. Wir müssen uns deshalb anstelle von einem wohltuenden Bad mit einer sogenannten „Katzenwäsche“  begnügen.

Freitag, 22. September 1972  

Das Gruppen-Frühstück muss gemeinsam, zu einer vorgeschriebenen Zeit eingenommen werden.  Nach einer Wanderung von unserem Zimmer auf die andere Seite des Hotels finden wir den mit einer Nummer angegebenen, für uns reservierten Speisesaal. Am Eingang kontrolliert eine Wärterin umständlich auf einer Namensliste, ob man Anrecht auf das Frühstück hat.

Der ganz in Weiss gehaltene, recht grosse Saal ist leer, ausser einem langen Tisch. In einer genau der Zahl der Teilnehmenden unserer Gruppenreise entsprechend sind zu beiden Seiten des Tisches Stühle lückenlos nebeneinander aufgestellt. Unter den missbilligenden Blicken des Personals muss man die Stühle selber auseinander schieben, um sich setzen zu können, ohne Schulter an Schulter gepresst zu werden.

Es wird über die verschiedensten, für verwöhnte Schweizer nicht akzeptabel scheinende Dinge geschimpft. In einem Zimmer habe es Brandlöcher von Zigaretten in der Bettwäsche, in einem anderen seien die Vorhänge schmutzig und teilweise zerrissen. In mehreren Zimmern seien Kakerlaken   hervor-gekrochen und die ganze Nacht störend herumgekrabbelt. Laut lachend erklärt eine Reiseteilnehmerin, sie habe „e kalts Fudi“, da sie sich infolge der fehlenden Klobrille direkt auf das Porzellan setzen müsse.

Die Frühstücks-Tafel ist reich bestückt mit heissen Würstchen, Buchweizengrütze, angebrannten Eierspeisen, Bratkartoffeln mit Fleischsauce, Mayonnaisesalat. Die meisten Gerichte glänzen unter einer dicken Fettschicht oder schwimmen in zerlassener Butter. Für Russen dürfte, angesichts der fast leeren Geschäfte für Lebensmittel, eine solche Fülle fast wie ein Traum vorkommen. Mir dagegen verschlägt schon der Anblick dieser übermässig kalorienreichen Speisen den Appetit und die Lust, sie auch nur zu probieren.

Auch die angebotenen Getränke erweisen sich als „gewöhnungsbedürftig“. Die Sowjetregierug ist bemüht, die Bevölkerung vor Krankheiten zu schützen. Die vorgeschriebenen Zusätze zum Trinkwasser werden dabei so hoch angesetzt, dass der Chlorgeschmack den Duft von Kaffe oder Tee übertönt.

Wir verlassen das Hotel ohne Frühstück.  Die uniformierten, grimmig wirkenden Wächter am Ausgang sollen den Gästen vermutlich ein Gefühl von Sicherheit vermitteln. Bei mir erzeugen sie eher das Gegenteil.

Nach der Durchquerung vom grossen „Roten Platz“erreichen wir den Kreml. Durch das „Spasski“-Tor dürfen nur höhere Regierungsbeamte diese Stätte betreten. Wir dagegen, als gewöhnliche Sterbliche, müssen um die Mauern herum gehen, bis zum Dreifaltigkeits-Turm.

Im Kreml besuchen wir vier Kirchen, umgewandelt in Museen: die drei grossen „Uspenski Sobor“ (Mariä-Himmelsfahrt Kathedrale), „Archangelski Sobor“ (Erzengel-Michael Kathedrale) und „Blagoweschtschenski-Sobor“ ( Mariä-Verkündigung Kathedrale) sowie  die kleine, reizvolle Kirche „Rispoloshenski-Sobor“.

Die „Granowitaja Palate“, den Facetten-Palast, können wir nur von aussen  sehen. Wir gelangen auch nicht in die Staatliche Rüstkammer, das grosse Museum, das mir beim früheren Besuch in Moskau so imponiert hatte. Man müsse an Theater-Kassen Eintrittskarten besorgen. In der Folge haben wir das an unzähligen Kassen bei Theatern, im Metro und im Hotel vergeblich versucht. Es gäbe nur nach drei Monaten Karten, oder sie waren gerade ausgegangen, oder die Kasse war noch nicht geöffnet – bis wir es endlich aufgeben.

Die überwältigende Fülle von Eindrücken, welche die nach sorgfältigen Restaurationen in ausgezeichnetem Zustand befindlichen Innenräume der verschiedenen Kathedralen vermitteln – mit den vom Boden bis zur Decke reichenden Fresken-Malereien und den zahllosen goldglänzenden Ikonen – macht den Besuch des Kremls für Adalberto und mich zu einem beeindruckenden Erlebnis.

Wir gehen zu Fuss zur Krapotkin-Strasse, wo jedoch das Tolstoi-Museum wegen Renovation geschlossen ist. Die freundliche Wärterin sagt mir aber, ich solle doch ins Wohnhaus des Dichters gehen. Ich hatte irrtümlicherweise geglaubt, dieses Museum – in einem einfachen alten Haus – sei sein besuchenswertes Wohnhaus, von dem ich schon verschiedentlich gehört habe.

In den Strassen fällt auf, dass immer wieder – zwischen grossen, neueren Bauten – niedrige, zweistöckige Häuser geblieben sind aus der Zeit vor der Revolution. Ab und zu hat es stattliche Gebäude, meist in kokettem, italienischem Barockstil mit symmetrischen Fassaden und klassizistischen Säulen, die offensichtlich einst Paläste von Adeligen waren. Meist sind diese schönen Häuser gelb/weiss. Oft auch in einem charakteristischen hellen Blau/grün, mit Weiss kombiniert.

Zurückgekehrt ins Hotel Rossija versuche ich vergeblich an den zwei Theaterkassen des Hotels Karten für die Vorstellung im Bolschoi (Ballett: Anna Karenina) zu bekommen. Adalberto wartet geduldig in einer der Eigangshallen des Hotels, während ich herumrenne. Ich habe ein leichtes Gefühl von Klaustrophobie, da an den vier Seiten des monströsen Hotels sich alles wiederholt, dazwischen lauter endlos scheinende Korridore.

An jeder der vier Seiten des Hotels hat es Buchläden. In keinem gibt es  irgendwelche Führer oder Pläne von Moskau – sie hätte jedoch etwas über eine der Provinzstädte, sagt mir die gleichgültige Verkäuferin in einem dieser Buchläden.

Zwischen den Theaterkassen ohne Billette und den wenig hilfreichen Buchläden hat es riesige Speise-Säle. In den endlosen Korridoren vegetieren hinter identischen Pültchen kafkaesk wirkende Wächterinnen. Ich verliere zuletzt die Orientierung, beginne zu schwitzen und weiss nicht mehr, auf welcher Seite dieser megalomanen Riesen-Schachtel der geduldige Adalberto meiner Rückkehr entgegenharrt.

Ich muss hinausgehen, an die frische Luft. Draussen wird mir die Situation klar:  entlang der einen Seite verläuft der Fluss Moskwa, auf der anderen ist eine bezaubernde Reihe ehemaliger Gotteshäuser erhalten geblieben, die gerade restauriert werden, direkt neben dem monströsen Hotel aber irgendwie verloren wirken.

Es handelt sich – wie ich später von einem Taxi-Chauffeur erfahre – um Privatkirchen der Romanoffs. Entzückend  wirken die kleinen, goldenen Kuppeln auf einer roten Backstein-Kapelle. Interessant ist das Holzdach auf einer anderen, deren Bretter in zierlichen Formen ausgesägt sind.

Wir fahren zu Frossia Salomon und bringen ihr die Tasche mit Kleidern und Nahrungsmitteln, welche Tante Manja für ihre Freundin aus gemeinsamer Kindheit vorbereitet hat. Bei einem früheren Besuch von Moskau, im Jahre ???? hatte ich – damals gemeinsam mit Karin – Frossia kennen gelernt. Sie gab uns Einblicke in ihr tragisches Schicksal: 18 Jahre Lagerhaft im hohen Norden. Sie war mit einem Vetter unseres Vaters verheiratet, verlor aber ihren Mann, der erschossen wurde. Ihren Sohn sah Frossia zum letzten Mal als er 12 Jahre alt war – er soll, wie mir Manja später sagte, im Gefängnis verhungert sein, als er 17 war.

Karin und ich mussten Frossia auf dem grossen Platz vor dem Bolschoi-Theater treffen. Sie hatte uns telefonisch eine Beschreibung von sich gegeben und gesagt, sie würde uns auf einer Bank sitzend erwarten. Wir sollten uns einfach – wie zufällig – neben sie setzen, ohne sichtbare Begrüssung. Ein Kontakt mit Ausländern könnte sich nämlich für sie als gefährlich erweisen.  Nachdem wir lange mit Frossia geredet hatten, mussten Karin und ich sie wieder ohne erkennbare Abschieds-Zeremonien verlassen. Die  mitgebrachten Geschenke sollten wir anscheinend vergessen und unter der Bank liegen lassen. Ewas später wollte Frossia aufstehen und sie unbemerkt mitnehmen. Das alles hatte Karin und mich bedrückt und traurig gestimmt.

Nun haben sich offenbar die Verhältnisse etwas verbessert. Frossia wagt es deshalb, Adalberto und mich bei sich zuhause zu empfangen. Sie ist dünn und eingefallen. Obwohl nur 69 jährig, wirkt sie viel älter. Sie ist aber ganz frisch im Geist und sehr nett – auch zu Adalberto. Sie freut sich sehr über unseren Besuch – ohne sentimental zu sein.

Frossia wohnt in einem riesigen Wohnblock mit vielen Eingängen, im 8. Stockwerk. Es hat auch einen klapprigen Lift, der noch funktioniert. Sie hat ein Zimmer innerhalb einer kleinen 2-Zimmerwohnung. Im anderen Zimmer ist ein Ehepaar einquartiert. Sie serviert uns Stücke einer Wassermelone – hier wohl eine Kostbarkeit, sowie Tee mit gebackenen Plätzchen.

Frossia wurde rehabilitiert, bekam ein Zimmer zugeteilt und geniesst eine schmale Pension, die aber – sie erklärt dies etwas unklar – durch eine Dezimalstellen-Veränderung des Rubels nur noch ein Zehntel wert sei. Die Pension wird für die Jahre der Verbannung als Arbeitsjahre berechnet, wobei  die im Norden verbrachten doppelt zählen.

Schon bei der Fahrt mit dem Taxi zu Frossia sahen wir einen interessanten Beton-Rundbau. Es ist der neue, staatliche Zirkus. Nachdem wir uns von Frossia verabschiedet haben – sie demonstriert durch bodentiefe Verbeugungen wie wir ihren Dank an Tante Manja übermitteln sollen – gehen wir zu Fuss zu diesem Zirkus, der vor zwei Jahren eröffnet wurde. Aussen ist er ganz aus Glas. Innen sind rundum mehrere Buffets aufgestellt an denen wir Sandwiches erstehen und dann Eis.

Die eigentlichen Zirkus-Nummern sind grossartig, doch sie werden mehrmals  durch kitschig folkloristische Tanz- und Gesangs-Darbietungen unterbrochen. Die technische Einrichtung ist von höchster Perfektion. Einmal wird die ganze Manege versenkt, dabei kann man erkennen, dass im Untergeschoss vier weiter Manegen bereit stehen.

Nach der Vorstellung benützen wir zum ersten Mal die Metro, die uns rasch ins Zentrum zurück bringt. Die Fahrt kostet 5 Kopeken, die in einer Drehflügel-Barriere eingeworfen werden. Es hat viele Münzwechsel-Automaten und auch einen Schalter, wo Papiergeld umgetauscht werden kann.

Unendlich lange Rolltreppen fahren sehr schnell und tief hinunter – durch weisse, reklamefreie und für uns Westeuropäer deshalb unbelebt wirkende Gewölbe. In manchen Stationen können wir eine für uns komisch wirkende, kommunistische Pracht  bestaunen: barocke Leuchter, Gipsgirlanden und Rankenwerk. (Ich erfinde eine dazu passende Stilbezeichnung: „Louis-Metro“).

In der Station „Platz der Republik“ sind unter jedem Gewölbe-Bogen lebensgrosse, realistische Bronzefiguren aufgestellt, als Hymne auf die  vielseitigen Aktivitäten des russischen Volkes:  Landwirt (und Landwirtin) – Jäger (und Jägerin) – Matrose – Arbeiter – Soldat usw.  Auf jeden Mann folgt eine auffallend muskulöse Frau von gleichem Beruf. Passend dazu auch ein kräftiger Bub und ein ebensolches Bronze-Mädchen.

Wir amüsieren uns über all diesen Bombast – er ist aber genau geplant und -wie mir scheint – für die meisten Menschen klug eingesetzt. Jedenfalls höre ich später, wie sich Teilnehmerinnen unserer Reise unterhalten und dabei begeistert die „hohe künstlerische Entfaltung Russlands“ loben, die sie in der Metro bewundern konnten.

Samstag, 23. September 1972

Nach dem Frühstück versuchen wir erneut, an verschiedenen, uns empfohlenen Stellen Eintrittskarten für die Staatliche Rüstkammer im Kreml zu bekommen. Da Adalberto aber ungeduldig wird, geben wir es endlich auf. Nun fahren wir im Bus zum „Novodewitschi“- Kloster, übersetzt: Neues Kloster der Hl. Jungfrau.

Es ist das grösste der sechs Befestigungs-Klöster, die im Süden und im Osten die Stadt Moskau beschützt hatten. Hier wurde auch der Strelitzen-Aufstand  niedergeschlagen und die Anführer gehenkt. Auf dem Friedhof  entdecken wir die Gräber der Schriftsteller Turgenjew und Lermontov. Es sollen hier auch andere andere russische Schriftsteller begraben sein.

In der Hauptkirche, gewidmet der „heiligen Ikone der Muttergottes von Smolensk“, wurde Boris Godunow gekrönt. Die Halbschwester von Peter dem Grossen wurde in dieses Kloster verbannt. In der Kirche ist der Thronsessel von Ivan dem Schrecklichen zu sehen. Die ländliche, friedliche Stimmung im Kloster-Areal ist beeindruckend.

Wir gehen in ein nahe gelegenes Kaffeehaus, um etwas zu essen. Von einem  entfernten Tisch macht uns ein Typ immer wieder Zeichen. Zuletzt kommt er  zu uns; hübsch, blauäugig, kräftig, schätzungsweise 24-jährig. Er will Kleider kaufen, alles was wir haben, auch möchte er Valuten eintauschen, er habe sehr viel Geld, wie er sagt – er will bis zu 1000 Dollar zu guten Schwarzmarkt-Preisen kaufen, falls wir das bei uns haben

Dann bietet uns Mädchen an, oder auch sich selber. Auf die neugierige Frage, was er kosten würde, antwortet er ausweichend und sagt nur mehrmals: Viel, sehr viel. Zuletzt gibt er aber doch bekannt, dass er normalerweise 150 Rubel verlange. Wenn jemand zahlt, dann gut, aber es sei auch ohne Bezahlung möglich. Er scheint enttäuscht, dass wir auf keines seiner vielfältigen Angebote eingehen. Um ihn loszuwerden, geben wir ihm ein Paket Zigaretten und verabschieden uns. Adalberto sieht die Existenz dieses jungen Mannes nicht negativ, sondern findet es sogar positiv, dass er sich nicht einfach mit den Widrigkeiten seiner Umgebung abfindet.

Wir sehen eine kleine Menschen-Schlange. Zwei Händler verkaufen Glasdosen mit Tomatenkonserven aus Marokko, offensichtlich ein begehrter Artikel. Gemüse scheint in Moskau sehr knapp zu sein. Früchte gibt es praktisch kein, ausser winzigen Aepfelchen voller Flecken.

Ich fotografiere die kaufwillige Menschen-Schlange. Danach macht mir Adalberto eine Szene, die mir zu Denken gibt und mich traurig stimmt. Er findet es sei eine Rohheit, unterprivilegierte Menschen zu fotografieren, um ihre Schwierigkeiten blosszustellen. Adalberto hat wohl recht, aber bisher ist  nicht das nicht in diesem Sinne bewusst gewesen. (Zudem hat ein junger Mann, der mich von der anderen Strassenseite beim Fotografieren beobachtete, wütend herüber gerufen, ich solle doch besser Denkmäler fotografieren).

Wir gehen zu Fuss zum Wohnhaus Tolstois – ein einfacher Holzbau. Innen alles noch genau so, wie es zu Lebzeiten Tolstois war, sogar Kleider und persönliche Erinnerungsstücke werden in den Schränken aufbewahrt. Im Salon ist der Teetisch gedeckt. Es hat im Haus – was man von aussen nicht ahnt – 16 Räume, von denen allerdings die meisten recht klein sind. Alles wirkt auf mich sehr rührend und erinnert mich auch irgendwie an die Atmosphäre in Schackenhof, dem polnischen Landgut meiner Grosseltern mütterlicherseits.

Nachher fahren wir im Bus zum Schwimmbad, das an Stelle der dafür abgebrochenen Kirche errichtet wurde. Das Wasser habe laut einer Tafel am Eingang die konstante Temperatur von 27 Grad – auch im tiefen Winter. Adalberto will nicht schwimmen und macht sich selbständig.

Ich kaufe Karten für Eintritt und Handtuch-Miete. Auf der Eintrittskarte ist der entsprechende Sektor zum grossen, runden, Schwimmbecken angegeben. Der  Umkleideraum ist reichlich herunter gekommen, was bei vielen, auch relativ neuen Bauwerken der Fall ist. Erst jetzt erfahre ich, dass ich noch anderthalb Stunden warten müsse, bis ich drankomme – und dann dürfe man nur eine vorgeschriebene Dauer schwimmen, höchstens während einer Stunde. Angesichts dieser Bedingungen ziehe ich vor, auf das Schwimmen zu verzichten.

Statt dessen besuche ich das Marx/Engels-Institut in einem ehemaligen Adelspalast, umgeben von einem Garten.

Anschliessend gelingt mir noch ein – leider viel zu kurzer – Besuch im daneben liegenden Puschkin-Museum, 1912 im klassizistischen Tempelstil erbaut. Ganz herrliche Impressionisten, frühe Picassos, sowie einige neue Legers, vom Künstler dem Museum geschenkt. Besonders eindrücklich wirkt auf mich der kleine, wohlbekannte, rührende Rousseau: „Poet und seine Muse“. Ferner ist ein ungewöhnlich grosser Bonnard zu sehen – usw. usw. Ausserdem hat es Kunstschätze aus Aegyptem, alte Italiener und Franzosen wie Watteau usw.

Adalberto erwartet mich im Hotel – er war im grossen Warenhaus GUM, hat aber dort nichts gefunden, was er hätte kaufen wollen. Nach dem Abendessen begeben wir uns zum Kreml in den sehr schönen Kongressaal im „Dworjets Sjesdow“ (Kongresspalast). Der grosse Saal bietet Platz für 6000 Menschen. Der Palast sei in nur 15 Monaten fertiggestellt worden. 1961 wurde er eröffnet. Der Saal dient sowohl für Kongresse als auch für Konzert- oder Theater-Aufführungen.

Wir sitzen in der vordersten Reihe und ich lassen Verdis Oper „Rigoletto“ über mich ergehen. Aus Rücksicht auf den Opernliebhaber Alberto versuche ich meine negative Einstellung zu Opern zu unterdrücken. Allerdings ist die Aufführung aufwendig und recht gut inszeniert. Sehr kompliziert verläuft die Handlung, die Verdi von einer in Frankreich verbotenen Erzählung von Victor Hugo übernommen haben soll.

Adalberto kritisiert den Sopran – in Mailand hätte man diese Solistin gleich verjagt, weil  ihre Stimme anscheinend auf und ab geht. Dagegen lobt er den Tenor. In der Pause rollen wir auf einer der vielen mechanischen Treppen hinauf in einen ebenfalls sehr schönen, kleineren Saal im obersten Stockwerk. Hier sind Buffets aufgestellt. Wir verschlingen schwer aufliegende „Blini“ mit einem Löffel echtem Kaviar und danach Sahne-Eis mit Konfitüre aus schwarzen Johannisbeeren.

Der Strom der herausfliessenden Zuschauermenge beginnt erst bei den zahllosen Autobussen und dann auf dem Roten Platz zu versickern. Wir gehen  in die beleuchtete „Vasili Blashenni“-Kathedrale um zu fotografieren. Adalberto wünscht sich das – ich finde es zwar sinnlos ohne Stativ – mache ihm aber die Freude. Er scheint es zu schätzen, dass ich trotz grosser Müdigkeit mit ihm in die Kirche gekommen bin.

Sonntag, 24, September 1972 (Moskau – Zürich).

Nach dem Frühstück fahren wir im Taxi zur Kirche „Blagoslowskaja“, die uns Frossia empfohlen hat. Der Gottesdienst ist sehr ergreifend, gemeinsam zelebriert von sechs Priestern. Dazu Gesang von einem grossen Chor. Kerzen werden weitergereicht mit geflüsterten Angaben, wo sie angezündet werden sollen. Immer wieder bekreuzigen sich Leute, trotz dem dichten Menschenknäuel, mit weiten Gesten. Die Frauen überwiegen in der Zahl,  fast alle alt und arm wirkend, in Kopftüchern, das alte Mütterchen Russland verkörpernd.

Sauerstoff zum Atmen hat es fast keinen mehr. Wir stehen längere Zeit in der Menschenmenge. Zuletzt befällt mich leichtes Unwohlsein. Wir gehen hinaus  an die frische Luft und gleich geht es wieder besser. Nachher stehen wir im hinteren Teil der Kirche. Dort ist die Luft in der Nähe der Türe noch weniger verbraucht. Trotzdem fällt eine Frau um. Ich schleppe das uralte Gespenstlein hinaus aus der Kirche – ein leichtes Häufchen Knochen in viel zu weiten, schweren, wollenen Kleidern. Die Alte stöhnt, sie würde nichts mehr sehen, nichts verstehen. Draussen setzte ich sie auf ein Mäuerchen, neben eine wirklich Blinde – so dass mein Bündel auf die blinde Nachbarin kippen würde, sollte es weiter schlecht gehen. Als ich später erneut aus der Kirche herauskomme, plaudern die Beiden ganz zufrieden miteinander und haben sich wohl in ihrem Elend gefunden.

In der Kirche geht der Gottesdienst endlos weiter. Ein mongoloider Junge beginnt plötzlich, einen Mann zu schlagen – beruhigt sich gleich danach aber wieder. Geld wird von drei alten Weibern, die sich hintereinander durch die Leute zwängen, in grossen flachen Schüsseln eingesammelt. Wir gehen, bevor der Gottesdienst zu Ende ist.

Die Religion hilft tatsächlich den Unterprivilegiert, das Leben zu ertragen, das habe ich hier besonders deutlich empfunden. Welch grossartiges Instrument die Kirche also in der Hand der Herrschenden doch sein kann! Damit lässt sich der Zustand des krassen, wirtschaftlichen Ungleichgewichts lange Zeit überspielen.

Als neue Pseudo-Religion dient die Vergötterung von Lenin: Hier begegnet man Lenin überall; von den Denkmälern bis zur Metro (im Namen Lenins), Adelspalästen, die durch Hinweis-Schilder aufgewertet werden, weil Lenin einmal dort gesprochen hat – bis zu Fotografien von Orten, die verehrungswürdig wurden, weil Lenin einmal dort geschlafen, gegessen, oder geschrieben haben soll. Eine solche Foto-Serie ist beispielsweise  an den Wänden der Korridore im Hotel Rossija zu sehen.

Von der Metrostation „Baumann“ – anscheinend nach einem Revolutionär dieses Namens benannt – fahren wir ins Herz der Stadt zurück und besuchen erneut den Kreml. Adalberto hat die „Tsar Puschka“ (König Kanone) und „Tsar Kolokol“ (König Glocke) – die grosse Glocke mit dem abgebrochenen Teilstück, das allein 11 Tonnen wiegt – noch nicht gesehen.

Erstaunlich lange Menschen-Schlangen winden sich schon im Park vor und zurück, wobei unglaublich geduldige Menschen allmählich zur anderen Seite der Kremlmauer auf den Roten Platz gelangen. Dort können sie zuletzt im Mausoleum Lenins im Vorbeigehen einen kurzen Blick auf das echte (oder aus Wachs nachgebildete?) Gesicht des Vergötterten erhaschen. Allein die Tatsache, das man nur ganz langsam zu diesem geheiligten Leichnam gelangen kann, erhöht vermutlich die Intensivität des Erlebten.

Eine andere Menschenschlange umwindet drei Seiten des langen Gebäudes der ehemaligen Manege, in der mein Grossvater, zusammen mit meinem Vater einst ihre Reitkünste vorgeführt und dafür eine Goldmedaille erhalten haben. Gezeigt wird eine Fotoausstellung über Frankreich. Für meisten Russen bleibt eine Ausland-Reise ein unerfüllbarer Traum.

Vor und während des Mittagessens werden Postkarten beschrieben, die ich zur Freude von Adalberto, nach einigem Suchen in einem der halb leeren Buchläden des Hotel Rossija auftreiben konnte.

Dann stundenlanges Warten im Flughafen. Ich benütze die Zeit für Tagebuchnotizen.

Vor der Abreise stecke ich 200 Rubel in einen Umschlag und schicke sie an Frossias Adresse. Hoffentlich wird sie das Geld erhalten. Von den aus der Schweiz mitgebrachten 300 Rubel sind immer noch etwas mehr als 50 Rubel übrig geblieben, die ich dann in Zürich wieder umwechsle. Somit haben wir nur etwa 50 Rubel verbrauchen können, trotz zweimaligem Theaterbesuch mit besten Plätzen, Kaffetrinken, Eis, Sandwiches, Taxi- und Metro-Fahrten.

Der Rückflug nach Zürich ist direkt, ohne Zwischenlandung. Wir kommen aber mit zwei Stunden Verspätung an. Im Mövenpick geniessen wir grosse Portionen von frischem Salatπ.

Es war eine kurze und gleichzeitig interessante Reise. Aber die Voraussage des Barmanns, beim Zwischenstopp in Budapest, hat sich dabei als richtig erwiesen.