Brescia erschien mir bisher als eine zwar wichtige aber für mich uninteressante Industriestadt, an der ich oft unterwegs nach Venedig vorbeifuhr, eine knappe Stunde nach Mailand. Nun konnte ich Brescia näher kennen lernen.
Der in der Po-Ebene gelegene Teil von Brescia ist eine moderne Industriestadt, eine hauptsächlich nach dem zweiten Weltkrieg entstandene Trabantenstadt. Auf einem darüber liegenden Hügel ist jedoch das schon zur Römerzeit gegründete Brixia – mit seinen im Laufe von zwei Jahrtausenden errichteten Baudenkmälern – als prächtiges, historisches Architekturensemble erhalten bleiben. Das war für mich eine Entdeckung, die mich richtig begeistert hat.
Brescia beabsichtigt den Ruf einer europäischen Kulturhauptstadt einzunehmen. Der geplante Aufstieg zur „capitale dell’arte“ begann am 23. Oktober 2004. An diesem Tag wurden in Brescia gleichzeitig fünf Ausstellungen eröffnet. Das Zugspferd ist dabei die Monet-Ausstellung.
Die nächste Ausstellungsserie beginnt im Oktober 2005. Sie wird gekrönt mit Gaugin, Van Gogh und Mondrian. Im Herbst 2006 soll es mit wichtigen amerikanischen Malern weitergehen, gefolgt von den Fauves und den Expressionisten im Wintersemerster 2007/2008.
Die Ausstellungen des Jahres 2004 sind alle in der erhöht gelegene Altstadt von Brescia veranstaltet, aufgeteilt auf zwei Stätten, die nicht weit voneinander entfernt sind.
Santa Giulia ist ein von Napoleon aufgehobenes Kloster. Der riesige Komplex beherberg heute mehrere Museen. Hier sind drei der gleichzeitig eröffneten Ausstellungen zu sehen. Die beiden anderen finden sich in der Pinakothek Tosi-Martinengo, einem historischen Stadtpalast.
Empfehlenswert ist eine Stadtrundfahrt zum Kennenlernen der bemerkens-werten Architekturgeschichte der einstigen römischen Stadt Brixia. Zu jeder vollen Stunde startet an der Museumsstrasse – vor den erhalten gebliebenen Säulen des römischen Forums – ein originelles Fahrzeug. Das einstige Tram ist aus Brescia verschwunden. Ein privates Unternehmen kaufte einen der Tramwagen, polsterte die Holzbänke und stellte den restaurierten Wagen auf das Fahrgestell eines Busses.
Die Rundfahrt vermittelt einen guten ersten Eindruck. Reizvolle Plätze sind umringt von gotischen Bauten des „due- e trecento“, andere entstanden während der 350-jährigen Herrschaft von Venedig über Brescia, also bis zur Zeit von Napoleon – weitere während der nachfolgenden Herrschaft der Osterreicher, die mit dem vereinten italienischen Königreich ein Ende fand.
Interessant ist auch das Castello (in dem sich heute zwei weitere Museen befinden). Brescia wird von dieser Schlossburg überragt und von hier aus wurde die Stadt von den Österreichern beschossen. Den chronologischen Abschluss des architektonischen Bilderbuches bildet Piazza Vittoria, ein monumentales Ensemble im Stil des Faschismus.
Die Pinakothek Tosio-Martinengo basiert hauptsächlich auf den reichen Sammlungen, die Graf Paolo Tosio im Jahre 1844 und Leopardo Martinengo im Jahre 1883 der Stadt geschenkt haben. Eine beschränkte Auswahl von 60 Gemälden aus dem 15. bis zum 18. Jahrhundert werden hier in einer neuartigen und sehr beeindruckenden Weise präsentiert.
Gleichzeitig sind in einem anderen Flügel des historischen Palastes eine Auswahl aus der 30 000 Werke umfassenden Kupferstichsammlung der Pinakothek zu sehen. Auch dafür wurden nur 60 Meisterwerke ausgewählt; von Dürer, Schongauer, Rembrandt – bis hin zur Neuzeit. In beiden Fällen handelt es sich um temporäre Ausstellungen.
„Tizian und die venezianische Malerei im 16. Jh.“ heisst eine der drei Ausstellungen in den Gebäuden des ehemaligen Klosters Santa Giulia. Sie zeigt neben dem grossen Porträt von François I von Tizian, auch einige Gemälde von Tintoretto, Veronese, Bassano usw. Diese fast nie ausgeliehenen Werke konnten in Brescia ausgestellt werden, da zur gleichen-Zeit der entsprechende Saal im Louvre infolge der Restauration der berühmten Mona Lisa geschlossen blieb.
Die grossartigen Monet-Ausstellung in Santa Giulia umfasst rund 110 wichtige Werke, zusammengetragen von Museen aus aller Welt. Sie wurde – erstmals in der Kunstgeschichte – auf das Thema „Monet und die Seine“ ausgerichtet. (Was für ein grosses Glück, dass wir zur Abrundung jetzt auch die Ausstellung mit dem Thema „Monets Garten“ in Zürich erleben können!)
Die ersten Säle der Monet-Ausstung von Brescia zeigten Werke seiner Zeitgenossen, die ebenfalls dem speziellen Thema der Seine gewidmet sind: Pissarro. Renoir, Sisley und Caillebotte.
Die nächsten Säle folgen den entlang der Seine liegenden Wohnorten von Monet: Argenteuil, Vetheuil, Giverny. Neben den Bildern schuf Monet dort auch jeweils Gärten, von denen die letzte und weitaus grösste Anlage in Giverny mit dem Seerosenteich die bekannteste geworden ist.
Vom Komplex der Gebäude und der Gartenanlagen in Giverny wird in der Ausstellung auch ein grosses, detailliertes Modell gezeigt. Monet arbeitete in einem „bateau-atelier“ um die Seine unmittelbar zu erfassen. Eine genaue Rekonstruktion seines Bootes in natürlicher Grösse wurde eigens für diese Ausstellung angefertigt. Darin sieht man auch die Nachbildung seiner beiden Holzkoffer mit je acht auf Chassis gespannten Leinwänden.
In den Sommermonaten stand Monet schon um 03h30 auf und liess sich von einem seiner Gärtner im Atelier-Boot auf die Seine rudern. Das Boot wurde verankert und der Maler entnahm seine aufgespannten, nummerierten Leinwände – eine nach der anderen – aus den Koffern. Er arbeitete jeweils nur für kurze Zeit an jedem der schon begonnenen Bildern, um die rasch wechselnde Stimmung der Flusslandschaft festzuhalten.
Es beginnt mit den noch kaum erkennbaren Umrissen der Bäume zwischen denen Nebelschwaden vom Wasser aufsteigen. Dann folgt die Weiterarbeit an den Bildern mit immer hellerem Licht und stärker hervortretenden Farben – bis zuletzt der Sonnenaufgang die Wasseroberfläche mit goldenen Funken übersät. So entstand „La serie des matins sur la Seine“.
Schon bei zahllosen Werken früherer Maler hat das Wasser eine entscheidende Rolle gespielt. Dabei diente meist eine stilles Gewässer als Spiegel, um die Uferlandschaft wiederholen zu können – aber auf den Kopf gestellt. Für Monet gewann jedoch die eigentliche Oberfläche des Wassers gegenüber der Landschaft eine immer grösser werdende Bedeutung. Die Seine und das zum Teich des Gartens von Giverny eingeschleuste Wasser der Seine bildeten für ihn nicht bloss einen Spiegel, sondern hatten ein Eigenleben. Man erkennt unter der Oberfläche verborgene Algen und auf dem Wasser schwimmen Blätter und Blüten von Seerosen.
Im Jahre 1914 begann das Sehvermögen des im Jahre 1840 geborenen Malers -infolge einer Augenkrankheit – sich allmählich zu verschlechtern. Es ist deshalb kein Zufall, dass in seinen grossformatigen, späten Werken (die Monet bloss als „decorations“ bezeichnete) die umgebende Landschaft ganz verschwindet und nur noch die Wasseroberfläche die ganze Leinwand einnimmt.
Von seinem „pont japonais“ konnte Monet den darunter liegenden Seerosen-teich immer noch aus der Nähe betrachten. Die Bildsprache wird allmählich fast abstrakt – vor allem in seinen Seerosenbildern, die im letzten Saal zu sehen sind.
Den Abschluss der Ausstellung bildet ein grossformatiges Bild, das 1920 entstand und hauptsächlich aus einer Fläche von Blautönen besteht. Der damals 80-jährige Monet hat diese Fläche teilweise mit andersfarbigen Pinselstrichen übermalt. Man muss erst den Titel lesen, um zu erfassen, dass sich in dieser traumhaften Abstraktion blühende Ranken von Glyzinien im Wasser spiegeln. Grossartig!
Diesen Text schrieb ich Ende Oktober 2004.