Auf den gelben Fluten des Mekong – jenseits des Tsunami

Ein leichter, kühlender Wind ermöglicht einen angenehmen Aufenthalt auf dem Oberdeck, trotz der feuchten tropischen Hitze. Das nach einem alten Modell weitgehend aus Teakholz gebaute Schiff versetzt gedanklich in koloniale Zeiten. Es ist Januar 2009 und ich schreibe Notizen über die interessante Reise die ich zusammen mit Adalberto erlebe.

Auf den gelben Fluten des Mekong erreichen wir bald die Grenze zu Vietnam und werden Kambodscha hinter uns lassen. Der 4’500 lange Fluss entspringt im Hochland von Tibet. Nach einer langen Strecke durch China bildet der Mekong den Grenzfluss zu Burma (heute Myanmar genannt), Laos und Thailand. Nach seiner Durchquerung von Kambodscha teilt sich der Strom in Vietnam im fruchtbaren Mekongdelta in viele Arme, bevor er sich ins Chinesische Meer ergiesst.

Die Farbe des Wassers zeugt vom reichen Schlammgehalt, das der Mekong mit sich bringt und so die Landwirtschaft und die Ernährung von Millionen der in seinem unteren Drittel lebenden Menschen ermöglicht. Zwar üben die Chinesen strengste Geheimhaltung; dennoch ist durchgesickert, dass im chinesischen Oberlauf des Mekong (der dort einen anderen Namen trägt) mindestens 15 Dammprojekte geplant sind. Bei einigen sollen die Bauarbeiten sogar schon begonnen haben – eine bevorstehende Katastrophe für die stromabwärts liegenden Länder.

Leise gleiten die Ufer des breiten Stromes an meinen Augen vorbei. Jetzt, in der so genannten Trockenzeit im Dezember und Januar, ist der Wasserpegel niedrig. In der sommerlichen Regenzeit liegt er drei Meter höher, in manchen Jahren sogar darüber. Die von riesigen Urwaldbäumen überschatteten Holzhütten am Ufer stehen auf hohen Pfählen und lassen erkennen, wie weit das Wasser ansteigen kann. In der Regenzeit ist der Verkehr zwischen den Hütten nur in Booten möglich. Aber viele Familien leben ganzjährig auf dem Wasser.

Wir fahren vorbei an schwimmenden Fischerdörfern mit malerischen Märkten. Die Käuferinnen paddeln zu den Verkaufsbooten auf denen Früchte und Gemüse, fertig gekochte Mahlzeiten, ja sogar Kleider und elektronische Geräte angeboten werden. Fast über jeder der baufälligen Holzhütten am Ufer, sowie über den bewohnten Booten erhebt sich ein hoher Fernsehmast.

Immer wieder sind auf grossen verankerten Holzflössen bewohnte Wellblech-Hütten zu sehen. Wir hatten gerade ein solches Floss besucht. Es sind Fischzuchten, jeweils betrieben von einer Grossfamilie, die ganzjährig auf ihrem Floss lebt. In einem grossen Kessel wird übel riechendes Fischfutter gekocht. Den dampfenden Brei verschleudert ein Apparat mehrmals täglich über einer grossen Öffnung in der Mitte des Flosses. Darunter brodelt das Wasser von den silbrig aufblitzenden Leibern der gierig schnappenden Fische. Die „catfish“ – eine Welsart – gedeihen in einem Käfig aus Drahtgitter, der unter dem Floss bis 5 Meter tief ins Wasser reicht. Die Fischhalter kaufen aus speziellen Zuchtfarmen die kaum aus den Eiern geschlüpfte Fischbrut. Dank der üppigen Nahrung werden die Fische in nur 6 Monaten eine halben Meter gross. Die Ernte wird von Zwischenhändlern gekauft und in Konservenfabriken abgeliefert, die dann das fertige Produkt ins Ausland verschiffen.

In Gedanken blicke ich zurück auf die bisherigen Erlebnisse dieser Reise. Es begann mit dem Besuch der wichtigsten Tempelanlagen von Angkor. (Angkor Thom, Angkor Wat, die Elefanten Terrasse und Bayon). Sie wurden von den Herrschern der Khmer im 12. und 13. Jh. angelegt, später aus unbekannt gebliebenen Gründen verlassen und vom Urwald überwuchert. Nun sind die meisten Tempel von den Lianen und Wurzeln befreit und weitgehend restauriert. Die mit Touristen-Bussen überfüllten Parkplätze und das tausendköpfige Touristenheer (meist Asiaten und Australier) haben meine ursprünglich grosse Erwartung und Vorfreude beim Besuch dieser berühmten Sehenswürdigkeiten gedämpft.

Interessant war auch die Besichtigung von Phnom Penh, der Hauptstadt von Kambodscha. Besonders eindrückliche erwies sich der Besuch des  prachtvollen königlichen Palastes inmitten des bettelarmen Landes.

Mich fasziniert die abenteuerliche, bizarre Lebens-Geschichte von Norodom Sihanouk, weshalb ich sie hier kurz zusammenfassen möchte:

Die französischen Kolonialherren glaubten ein beeinflussbares Werkzeug in der Hand zu haben, als sie den 19 jährigen Prinzen im Jahre 1941 zum König ernannten. Zuerst spielte er brav die ihm zugedachte Rolle. Später aber vertrieb er die Franzosen aus seinem Land. Nach einer langen Kette von Liebesaffären heiratete er die Halbitalienerin Monique Izzi. Die Staatsgeschäfte interessierten Sihanouk weniger als die Filmkunst. Er dankte zugunsten seines Vaters ab. (Er liess sich allerdings lange Zeit später erneut zum König krönen).

In den Jahren 1965-1969 schrieb und produzierte Sihanouk nicht weniger als neun Grossfilme. Dabei amtete er gleichzeitig auch als Regisseur und manchmal sogar als Hauptdarsteller. So spielte er den Geist des Waldes, ein anderes Mal einen Feldherrn. Um seinen Filmen internationale Geltung zu verschaffen, liess Sihanouk – als Konkurrenz zu Cannes – zweimal ein internationales Filmfestival in Phnom Penh veranstalten. Es war kein Zufall, dass die Filme von Sihanouk mit den besten Preisen ausgezeichnet wurden.

Eine Zeitlang war er dann Gefangener der Khmer Rouge, wurde aber relativ gut behandelt. Dagegen sind viele seiner zahlreichen Kinder, Enkel und andere Verwandte der Königsfamilie umgebracht worden. Als die Vietnamesen in Kambodscha einmarschierten, gelang Sihanouk die Flucht nach Peking, wo er sich zum Kommunismus bekehrte und politisch aktiv wurde. Er verbündete sich mit seinen einstigen Feinden und kehrte mit deren Hilfe nach Kambodscha zurück. Später wurden die Khmer Rouge vertrieben und von 1993 bis 2004 amtete Sihanouk erneut als König des heutigen, konstitutionellen Königreiches von Kambodscha. Aus Alters- und Gesundheitsgründen hat er im letzten Oktober abgedankt.

Seine Nachkommen lehnten der Reihe nach ab, die Würde zu übernehmen. Die meisten Prinzen sind nämlich Minister und in diesem vollständig korrupten Land sind es solche Posten, die mühelos zu grossem Reichtum führen. Zuletzt wurde ein Sohn zum Thronfolger ernannt, der seinen Lebensunterhalt bisher als Balletttänzer in Paris verdient hatte.

Wir besuchen im ausgedehnten ummauerten Gelände mit den königlichen Palastgebäuden unter anderem auch die Silber Pagode. Der Namen bezieht sich auf den aus über 5000 Platten bestehenden Fussboden. Die Platten sind aus reinem Silber und wiegen je 1 kg. In dieser Pagode sind goldene, mit Diamanten und anderen Edelsteinen geschmückte Statuen aufgestellt, unter anderem der so genannte Smaragd-Buddha.

Zu sehen ist auch das schwere, aus Goldfäden gewebte Gewand, in dem der neue König gekrönt worden ist. Aber nicht nur das Gewand wiege schwer, erklärt uns der Reiseleiter augenzwinkernd: Der König müsse nun heiraten, was in seinem bisherigen Beruf als Balletttänzer den meiste homosexuellen Männern kaum als wünschenswert erscheint. Ausserdem genüge es nicht, nur zu Heiraten; der Unglückliche müsse sich dann sogar noch anstrengen, um einen Thronfolger zu zeugen.

Gerne würde ich mit solchen Erzählungen weiterfahren, aber ich muss nun endlich auf das für mich wichtigste Erlebnis dieser Reise zu sprechen kommen: Während ich in Gedanken versunken, wohlig im Rattansessel ausgestreckt auf dem Oberdeck des Schiffes ausruhe, rüttelt das Handy in meiner Tasche und gibt seine musikalischen Töne von sich. Ein besorgter Anruf aus Italien: ob es mir gut gehe? Ja – und ob ich denn nichts gehört habe von dem Unglück, bei dem vermutlich gegen 100 Menschen umgekommen sind? Das müsse doch in der Nähe geschehen sein, wo ich jetzt bin ?

Eine von mir geschätzte Annehmlichkeit des Schiffes ist, dass es kein Fernsehen hat. Ich befrage andere Passagiere, die aber auch nichts von einem solchen Unglück wissen. Doch vom nächsten Tag an drehen sich die Gespräche hauptsächlich um den Tsunami, von dem wir bruchstückweise immer mehr erfahren. Aus einer Unterhaltung mit dem netten Josef Felber, Flughafendirektor von Unique Zürich, der die Reise beim gleichen Veranstalter gebucht hat wie wir, erfahre ich, dass er gerade telefonisch den Rücktransport der Verunfallten nach Zürich mit Hilfe seiner Mitarbeiter organisiert. Es handle sich um 9 Leichen und 70 Verletzte und deren Angehörige.

Schon das schien erschreckend. Was dann weiter durchzusickern beginnt, brauche ich nicht zu beschreiben. Jedenfalls konnten wir Schiffspassagiere alle besorgten Anrufer beruhigen, wir seien erstens nicht in der Nähe des Meeres und zweitens auf der zum Chinesischen Meer gewendeten Seite von Südost-Asien und nicht auf der Seite zum Indischen Ozean, also „jenseits des Tsunami“.

Nach dem Königreich Kambodscha gilt der zweite Teil der Reise dem kommunistisch regierten Vietnam. Wir besuchen allerdings nur den südlichen Teil dieses so langen, schmalen Landes. Ähnlich wie in China zeigt sich auch hier der moderne Kommunismus als extremer Gegensatz zwischen protzigem Reichtum von Einzelnen, inmitten genereller Armut. Dies äussert sich besonders krass in der auf über 5 Millionen Einwohner angewachsenen Stadt Saigon, heute offiziell Ho Chi Minh City genannt.

Wir sind in einem der 20-stöckigen Luxushotels untergebracht. Eine Reiseteilnehmerin ist vor 5 Jahren in Saigon gewesen und berichtet mir, es habe damals noch kein einziges dieser modernen Hochhäuser gegeben. Die wohl als erstrebenswerter Luxus betrachtete, eisige Unterkühlung im Hotel und in den für Ausländer geeigneten Gaststätten – gepaart mit der jeweils brüsken Abwechslung zum feuchtschwülen Aussenklima – bewirkt bei mir eine unangenehme Erkältung, die ich erst zuhause im Tessin wieder loswerde.

Ein erschütternder Tagesausflug gilt einer Gedenkstätte im Urwald, wo in beeindruckender Weise der Vietnamkrieg gedanklich nachvollzogen werden kann. So sehen wir einen Teil des von den Vietnamesen ausgegrabenen, unterirdischen Tunnel-Systems. Es umfasst über 100 km. Darin verschwanden tagsüber Soldaten und Dorfbewohner. Sie tauchten nachts aus den Verstecken auf, um überraschte Amerikaner umzubringen.

In Ermangelung moderner Waffen haben die Vietnamesen unter anderem viele unsichtbare Fallen gebaut. Die feindlichen Soldaten fielen hinein und wurden von zugespitzten Baumbusrohren aufgespiesst.

Ein aus mehreren Hallen bestehendes Kriegsmuseum umfasst neben anderen Schrecklichkeiten auch Glasbehälter. Darin schwimmen Totgeburten in Konservierungsmitteln. Infolge des von den Amerikanern versprühten Entlaubungsmittel, dem so genannten „Factor Orange“, haben sie fehlende, oder missgebildete Ärmchen und Beinchen.

Der Vietnamkrieg wurde ohne jegliche Kriegserklärung geführt und kann schon deshalb als verbrecherisch betrachtet werden. Allein die so genannte Tet-Offensive soll nach amerikanischen Statistiken den Tod von nicht weniger als 165 000 Zivilisten sowie über 2 Millionen Flüchtlinge bewirkt haben.

Auch der Tsunami hat schreckliche Folgen. Aber dürfen die Medien dies wirklich in so sensationslüsterner Art ausschlachten, wie sie das jetzt getan haben? Sind nicht all die unnötigen kriegerischen Taten von Menschen noch viel schlimmer zu bewerten als die Folge der nicht von Menschen verschuldeten Naturkatastrophen?