Erste grosse Auslandsreise nach dem Kriegsende

Die Familien Kornfeld und Ruperti wohnten in Basel unweit von einander. Zusammen mit Ebi Kornfeld besuchte ich die Primarschule in der gleichen Klasse und wir verbrachten auch die Freizeit oft zusammen. Im Herbst 1946 unternahmen wir eine Reise nach Belgien und Holland.

Eberhard W. Kornfeld erlangte als Autor und Kunsthändler internationale Berühmtheit. Doch schon damals hatte er unter anderem Interesse und bereits gute Kenntnisse der niederländischen Kunstgeschichte und wollte deren Spuren verfolgen.

Ich dagegen wollte erstmals einige Gross-Tanten mütterlicherseits besuchen. Meinen nicht mehr lebenden Grossvater, den Holländer van Rijckevorsel, hatte ich nie kennen gelernt. Zur Erinnerung an unsere kurz nach dem Krieg noch recht abenteuerliche Reise verfasste mein Jugendfreund nachfolgenden Bericht.

Wir hatten unsere Treffen in

Brüssel

verabredet. Wanja kam aus Paris, ich aus der Schweiz.

Viel gab’s am ersten Abend zu erzählen, an dem wir über die grosse Brüsseler Messe bummelten. Es war Kermesszeit in den Niederlanden, überall begegneten uns bunten Buden und frohe Geselligkeit. Die Flamen müssen ein abergläubiges Völklein sein, denn eine solche Menge von wahrsagenden Hexen, von handlesenden alten Vetteln und Horoskope speiender Apparate hatte ich noch nie auf einem Messeplatz gesehen.

Schon an diesem Abend trat Wanjas erste Untugend zu Tage; er konnte an keinem Glacé-Stand vorbeigehen. Das sei sein Lebenselement, behauptete er in einer Seelenruhe und verschlang Unmengen dieser undefinierbaren Massen.

Als es gegen elf Uhr ging war es aus mit unserer Lebensfreude. Uns beiden sassen die langen Bahn-Reisen in den Gliedern.

Auch am zweiten Tag bescherte uns Petrus zwar wolkiges, aber doch angenehmes Wetter. Der Marktplatz von Brüssel, Grand’Place oder Groote Markt, hat zwar im ‚Baedecker‘ nur zwei Sternchen, aber es dürfte wohl in Europa wenige Stätten geben, die einen solchen Zauber ausströmen Es war eine gewisse Andacht dabei, als wir das Bild auf uns wirken liessen. Eine solch wunderbare, geschlossene architektonische Einheit!

Vor dem Rathaus, dessen Belfried schon 1454 vollendet war, sind einst die Köpfe Egmonts und Hoorns gerollt. Schade, dass das gegenüberliegende Brodhaus neueren Datums ist, dafür entschädigen aber die prächtigen Gildenhäuser, deren goldgeschmückte Fassaden den Platz einfassen.

Das Maison des Brasseurs mit seinem stolzen Reiter auf dem Giebel des Hauses sticht unter all den schönen Bauten besonders hervor. Das Bild wurde belebt durch all die Blumenstände mitten auf dem Platz. Dieses schöne Erlebnis hatte unsere Meinung über Brüssel positiv beeinflusst. Völlig ausgesöhnt hat uns dann der kleine Manneken Pis, das originelle Brunnenfigürchen, das sein Wasser auf die natürlichste Art und Weise spendet. Das Brünnchen muss den Touristen grossen Eindruck machen, da die Umgegend um das berühmte Figürchen nur aus Souvenirläden besteht.

Ein kleiner Stadtbummel kreuz und quer durch die alten Strassen, bei dem wir vor mancher schönen und typischen Fassade standen, liess uns Zeit zum koordinieren unserer Pläne. Schade, dass wir Brügge und Gent fallen lassen mussten, aber unsere belgischen Franken hatten unter dem Eindruck der recht hohen Preise die Schwindsucht bekommen. So mussten wir sehen, gleich Richtung Holland weiter zu kommen. Schade, dass wir uns etwas verrechnet hatten!

So zogen wir nach einem letzten Rundgang durch die Innenstadt mit Sack und Pack gegen den Bahnhof. Ein schneller Zug brachte uns durch die topfebene Landschaft nach

Antwerpen

Pulsierendes Leben herrschte in der Stadt, und wenn man einmal eine lange Strasse vor sich hatte, dann konnte man an deren Ende schon ein paar Schiffsmasten mit flatternden Wimpeln sehen. Der erste Kontakt mit der See!

Auf Wanja muss das appetitanregend gewirkt haben, denn schon sorgte er dafür, dass wir beide uns in einer grossen Markthalle an goldgelben Rübchen und ähnlichen Dingen gütlich tun konnten. Ich will ja nicht böse sein, aber eine Fresslust hat der gute Kerl im Laufe der Tage entwickelt!

Durch eine andere Türe ging’s wieder hinaus ins Freie und schon standen wir vor dem Rubensdenkmal und der grossen, siebenschiffigen Kathedrale, dem grössten kirchlichen, gotischen Bauwerk der Niederlande. Herrlich der Blick auf den wunderschönen Nordturm mit der durchbrochenen Turmspitze. Der Südturm ist leider unvollendet geblieben. Die sieben Schiffe im Innere der Kirche haben einen besonderen Reiz. Eine selten schöne, wohl einzigartige architektonische Lösung!

Dann fesseln uns die wunderbaren Rubensbilder. Im Querschiff hängen die  Aufrichtung des Kreuzes von 1610 und die Kreuzabnahme, die in den Jahren 1611-14 entstanden ist, während die Himmelfahrt Maria aus dem Jahre 1626 den Hochaltar schmückt.

Es waren unsere ersten grossen Rubens, die wir zu sehen bekamen. Schade, dass noch nicht alle der zum Teil schönen Glasgemälde eingesetzt waren. So wirkte das Licht auf dem hellgrauen Sandstein etwas hart. Aber gleichwohl, der Eindruck war ein wirklich grosser!

Reizend aber auch der schöne schmiedeiserne Brunnen von Quentin Massys, der vor der Kathedrale auf dem Handschoenmarkt steht und aus dem Ende des 15. Jahrhunderts stammt.

Ein schmales Gässchen führt zum Grooten Markt hin. Grand’Place heisst er nicht mehr, denn hier stecken wir mitten im flämischen Sprachgebiet. Eine Reihe schöner Gildenhäuser schliesst auch hier den Platz ab, an dem als schönstes Gebäude das aus den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts stammende Rathaus steht.

Quer durch die Altstadt spazieren wir zum Plantin-Museum. Aber da bietet sich uns ein schrecklicher Anblick. Der reizende Platz, mit dem wunderbaren Haus des Buchdruckers Christoph Plantin, dem ersten dieser berühmten Familie als Mittelpunkt, ist ein grauer Trümmerhaufen. Eine V-2 hat eines der schönsten Renaissancehäuser der Niederlande in Trümmer gelegt.

Die Fassaden sind noch einigermassen erhalten. Vielleicht kann dahinter ein neues Haus erstehen, getreu dem alten. Der alte Geist aber wird nicht mehr in den neuen Bau zurückkehren. Es werden nicht mehr die Mauern sein, die einst das Entstehen der berühmten Druckwerke geschützt haben.

Etwas bedrückt gehen wir von der Ruinenstätte weg. Erst die Wirkung des Magnetismus eines Heeringladens auf Wanja bringt wieder Leben in die Situation. Damit wird es langsam später Nachmittag; im zick-zag Kurs durch die alten Strassen bummeln wir zum Bahnhof zurück und klettern in einen Vorortzug, der uns nach Esschen, dem letzten belgischen Dorf vor der holländischen Grenze bringt.

Auf Schusters Rappen ziehen wir über die Grenze, nachdem die Zöllner eine solche Freude an unserer Wanderlust gehabt hatten, dass sie uns nicht einmal die Rucksäcke aufmachten!

 

Holland

Vorerst geschah gar nichts. Es kam weder ein Kanal, noch eine Windmühle, oder ein holländisches Meisje mit einem weissen Häubchen. Etwas enttäuscht über diesen recht trockenen Empfang, aber guter Dinge ziehen wir auf der endlosen Landstrasse los. Topfeben die Landschaft, über uns die gewaltige Himmelskuppel, deren Grösse wir noch nie so gefühlt haben.

Die ersten holländischen Kühe am Wegrand besorgen uns einen Liter wunderbare, kuhwarme und rationierungsfreie Milch. Der Hirt hatte zwar etwas Mühe unseren ausgefallenen Wunsch zu verstehen.

Dann kam das erste Dorf; kleine backsteinige Bauernhäuser. Auch hier hatte der Krieg seine Spuren hinterlassen – die Trümmer allerdings waren schon wieder sauber auf die Seite geräumt. Unbeschädigt stand die einzige Windmühle da. Es war die erste, die sich uns zeigte.

Mittlerweile war es Abend geworden und wir begannen uns umzusehen, wo wir unsere müden Glieder zur Ruhe niederlegen konnten. Etwas abseits der Strasse entdeckten wir einen Wald. In dessen Windschatten machten wir es uns bequem, bliesen Luftmatratze, stellten Feldbett auf und plauderten von den Schönheiten des Tages.

Doch plötzlich aus der Waldes Duster: Mit ernster Miene und im vollen Bewusstsein ihrer etwas zweifelhaften Würde zwei Polizisten. ‚De Papiere‘ … Sie waren recht erstaunt, als wir in einer Seelenruhe unsere Pässe hervorzogen und sie ihnen unter die Nase hielten.

Irgend ein vorsorglicher Bürger hatte die Polizei auf die Suche nach zwei dusteren Gestalten geschickt, die die Gegend unsicher machen würden und sehr wahrscheinlich aus irgend einem Kriegsgefangenenlager entwichen wären. Der Zwischenfall hat sein gemütliches Ende gefunden. Die beiden Hüter des Gesetzes entschuldigten sich und zogen wieder ihres Weges – allerdings erst nachdem wir sie gründlich in Bezug auf Rationierungsmarken und dergleichen ausgefragt hatten.

Die schönen Brunnen, wie wir sie bei uns kennen, sucht man in Holland vergebens. Überall stehen noch die Ziehbrunnen, wie man sie von den alten Holländern her kennt. Gutes Trinkwasser war manchmal ein Problem für uns. Deshalb waren wir recht froh, als sich unser Wäldchen als die Pumpstation von Rosendaal entpuppte und die Leute uns eine schöne Waschanlage zur Verfügung stellten.

Am anderen Morgen ging’s auf Schusters Rappen weiter. Von den netten Leuten an der Pumpstation nehmen wir Abschied und kommen nach

Rosendaal

Wanja hat Sorgen, hier soll eine seiner zahlreichen Tanten wohnen, von einer Adresse hat er aber keine Ahnung. Die einzige Lösung bleibt das Stadthaus, doch der Beamte bedauert. Es ist keine Einwohnerin da, die auch nur annähernd an den von Wanja genannten Namen herankommt. Nun tant pis, dafür bekommen wir hier unsere Rationierungsmarken für 14 Tage und müssen dem Jungen am Schalter versprechen, schweizerische Briefmarken zu schicken.

Postzegel heisst es so schön auf holländisch. Überhaupt diese Sprache! Sie hat uns zu manch heiterem Moment verholfen! Mit grosser Neugierde lasen wir in den ersten Tagen all die Anschriften an den Häusern und Wänden. Es war aber auch zu unterhaltsam! Rijwielenstalling, Inlichtingen, Meisje, Spoorwegen haben wir gleich am ersten Tag gelernt und nicht wieder vergessen. Später kamen dann noch andere dazu, Knalletepuff für Feuerwerk (einen Tag vor der Heimfahrt) aber schoss dann entschieden alle Vögel ab.

In Rosendaal folgte eine lange Sitzung mit dem Thema: allgemeine Reiserichtung. Nach langem hin und her zog uns doch Amsterdam wie ein Magnet an. Der Umstand, dass gerade ein abfahrtsbereiter Pullman im Bahnhof stand, entschied das hin und her endgültig. Herrlich fuhr’s sich in diesen Wagen.

In diesen Tagen war die grosse Brücke zwischen Breda und Rotterdam noch nicht wieder hergestellt, sodass die durchgehenden Züge den immensen Umweg nach Nijmegen machen mussten. Nun, wir waren nicht böse darüber, denn dadurch bekamen wir ein Stück Holland zu Gesicht, das wir sonst nicht gesehen hätten. In Nijmegen sah man noch deutlich die Spuren der schweren Kämpfe, die sich in dieser Gegend im Herbst und Winter 1944 abgespielt hatten.

Die Brücken über die Maas, den Wal und den Lek hingegen waren schon wieder tadellos in Ordnung. Überhaupt hat uns der grossatige Stand des Wiederaufbaus beeindruckt. Die Holländer haben in den seit dem Kriegsende vergangenen Monaten wirklich gearbeitet!

Stundenlang lassen wir die holländische Landschaft an uns vorbeiziehen, während uns die Städte und Dörfer, die der Zug berührt, willkommene Abwechslung bieten. Endlich kommen wir nach

Amsterdam

Ein netter Holländer schliesst sich uns am Bahnhof gleich an und will uns in der Stadt herumführen. An für sich ein netter Vorschlag – viel interessanter ist aber die Tatsache, dass er als Photograph Wanja zu Agfa-Karat-Filmen verhelfen will, die sonst unauffindbar wären. Wirklich, das Geschäft in das er uns führt hat noch welche auf Lager. Wanja ist seelig, ich mit. Denn Wanja ohne Film ist ein Kuchenteig ohne Hefe!

Dann sehen wir uns Amsterdam etwas an, kaufen in einem Lädchen unser Abendessen und setzen uns an irgend einer Stelle der Prinsengracht auf die Ufermauer. Unser repas frugal schmeckt uns herrlich, nur haben wir noch Sorgen für die Nacht. Alle Hotels sind bis zum letzten Bett besetzt! Bleibt also nur ein Ausweg. Richtung Hilversum setzen wir uns in einen Vorortzug und fahren los.

Bei Weesp scheint das Gelände ideal zu sein, also raus aus dem Zug und umgesehen. In einem kleinen Park finden wir ein Plätzchen und stellen zum zweiten Mal unser Einfamilien-Häuschen auf, ein lustiges Schauspiel für eine ganze Reihe holländer Buben. Weniger lustig aber ist der erste Regen, der uns dabei überrascht. Antun kann er uns zwar nichts mehr – und das monotone Geplätscher der fallenden Tropfen wiegt uns langsam in den Schlaf.

Am nächsten Morgen haben wieder Glück. Kaum stehen wir am Bahnhof von Weesp, da fährt schon der Zug nach Amsterdam ein. Die Bahnlinie führt ganz nahe an der Zuidersee vorbei. Auf dem Damm drehen sich langsam und gleichmässig die Flügel einer Windmühle, die wohl Wasser pumpt.

Dann fahren wir wieder in den am Rande des Hafens stehenden Amsterdamer Bahnhof ein. Der Morgen ist gleich vorbei. Ein Boot bringt uns kreuz und quer durch all die schönen Grachten und Winkel und den Hafen von Amsterdam, das Venedig des Nordens!

Wunderbar dieses Stadtbild. Selten, dass ein Haus aus dem Rahmen fällt. Alt und neu werden durch die Einheit des Baumaterials auf einen gleichen Nenner gebracht und aneinander gekettet. Überall diese rötlichen und schwarzbraunen Backsteine, die die grossen und weiss umrandeten Fenster einfassen. Der Kern von Amsterdam hat sich wohl im Laufe der Jahrhunderte wenig geändert, manchen Winkel erkennt man noch aus einem Bild einer der grossen holländischen Meister aus dem 17. Jahrhundert.

Im Hafen umkreisen wir die Ozeanriesen, während von den Docks der Lärm der Maschinen alles übertönt. Schiffe werden überholt, und an einer Stelle wird ein kleiner Flugzeugträger aus dem Krieg zu einem stattlichen Walfischfänger umgebaut.

In einem Chinesenrestaurant bekommen wir ein wunderbares Reisgericht vorgesetzt, die richtige Vorbereitung für den folgenden Besuch im Rijksmuseum. Herrlich die Dinge die wir da sehen! Rembrandt’s Staalmeestser und die Judenbraut, all die van Goyens, Jan Steens, Hals, Pieter de Hochs und die wunderbaren Stücke aus dem 15. Jahrhundert, mit unweigerlichen schönen roten Mänteln, wie Wanja sagt!

Schade, dass noch nicht alles hängt. Auch die Nachtwache ist noch nicht zu sehen. Unterwegs zum Bahnhof klopfe ich schnell bei Herrn Holgen an und melde mich für den nächsten Tag. Dann setzen wir uns wieder in den Zug, lassen noch einmal die schönen Eindrücke von Amsterdam an uns vorbeiziehen und fahren langsam, mit viel Gedampfe und Gepfeife, wie es sich für ein Vorortsrutscherli gehört, nach dem etwa 40 km entfernten

Alkmaar

Es ist Donnerstag, am Freitag Morgen wollen wir uns dort den Käsemarkt ansehen. Der Zug ist wie üblich überfüllt, doch die Holländer scheinen daran keinen Astoss zu nehmen. In die lustige Unterhaltung, die im Coupé hin und her schwirrt, werden auch wir hineingezogen. Wir müssen auf die üblichen Fragen antworten und den guten Leuten immer wieder klarmachen, dass wir wirklich für Ferien hier unten seien. Es fällt ihnen schwer zu begreifen, dass man aus der Schweiz weggehen und anderswo Ferien machen könne.

Wir fahren mitten durch das Wieringer Meer, das während den letzten Kriegsmonaten über einen Meter hoch überschwemmt gewesen ist. Spuren dieser Katastrophe entdecken wir aber keine mehr, die Bewohner haben auch hier sauberen Tisch gemacht. Auch in Alkmaar selbst ist alles wieder sauber aufgeräumt. Die Bäume der Parkanlagen sind zwar noch recht mitgenommen. An den Ufern der äusseren Grachten aber prangen schon wieder die schönsten Blumenfelder.

Hier haben wir mit dem Hotel mehr Glück, im ‚Central‘ erwischen wir noch ein ganz nettes Zimmer. Am langersehnten fliessenden Wasser bringen wir uns wieder einigermassen in Ordnung und bummeln dann, obwohl wir vom erlebnisreichen Tag recht ‚knätsch‘ sind, den schönen Grachten des Städtchens entlang.

Vor dem eigentlichen Marktbeginn unternehmen wir noch einen (einer von vielen) sogenannten Photobummel kreuz und quer durch den schönen alten Stadtkern. Gegen 10 Uhr aber wird der Betrieb um den Marktplatz herum immer grösser. Mit Kähnen und Lastwagen werden unzählige der gelben Käsekugeln herangefahren und auf dem Marktplatz, der extra für diesen Zweck in einer bestimmten Anordnung gepflastert ist, schön säuberlich in Reih und Glied und Stück auf Stück aufgeschichtet. Es sieht aus wie eine lange Reihe alter Kanonenkugeln in einem historischen Museum.

Auf einer Seite ist der Marktplatz von einem Kanal begrenzt, auf dar anderen aber steht die schöne alte Waage, die 1582 aus einer Kirche umgebaut worden ist.

Kurz nach zehn Uhr beginnt man hier auf vier riesigen alten Waagen die Käse zu wiegen, die von den in kurzen Schrittehen herantrappelnden ‚Kaasdragers‚ in ihren weissen Trachten mit den farbigen Hüten herangetragen werden. Von oben gesehen sieht der ganze Markt noch viel schöner aus, der Blick lohnte wirklich die mühsame Steigerei auf den engen Teppen des Turmes der Waage.

Über die Dächer hinweg kann man seine Blicke wandern lassen über die nahen Wiesen, die Kanäle und die Windmühlen. Einförmig und gradlinig dar Horizont, nur gegen Westen zeichnen sich sanft geschwungene Dünen gegen den Himmel ab.

Schade, dass all die schönen, runden Käse rationiert waren. So müssen wir uns leider ohne auf den Weg nach Amsterdam machen, wo wir uns wie der in all den schönen Grachten ergehen und ich mir bei Herrn Holgen ein paar Rembrandtradierungen ansehe.

Dann steigen wir hinter dem Bahnhof im Hafen vom Amsterdam in das Schiff, das uns durch den breiten Nordseekanal bring, oft manchen Meter höher als die unter dem Meeresspiegel liegenden Wiesen. Wir erreichen Velsen, kurz vor den grossen Schleusen von Ijmuiden.

Lang genug sind wir nun parallel mit dem Strand im Land herumgefahren. Nun wollen wir endlich ans Meer hinunter. Fähren und Drehbrücken unterhalten uns während der Fahrt. Die Gegend ist ein Schulbeispiel dafür, wie die Naturgewalten der Technik untertan gemacht werden können. Was wäre wohl Amsterdam ohne diesen Kanal? Wohl eine kleine Stadt mit einem Binnenhafen an der Zuidersee.

In Velsen finden wir gleich einen Autocar, der uns nach Beverijk bringt, wo wir den Anschluss an den Wagen nach Wijk aan Zee erwischen. Der Wagen ist wohl schon vor ein paar Jahrzehnten modern gewesen, immerhin bringt er uns aber einigermassen heil nach

Wijk

Wir stecken mitten in einem kleinen Dorf in den Dünen, als wir ausgeladen werden. Ein kleines nettes Seebad, das wohl schon bessere Zeiten erlebt hat. Ringsherum auf den Dünen stehen noch mächtige Gestelle. Bei näherem Zusehen entpuppen sie sich als Radargeräte, die die deutschen Truppen noch im Winter 44-45 installiert haben.

In die Luft ragende Flabrohre und Eingänge zu riesigen Unterständen zeigen uns, dass wir hier mitten im einstigen Atlantikwall stecken.

Auf einer kleinen, neuen Strasse kommen wir zum Meer hinunter. Der erste Blick auf die. See nach einem längeren Unterbruch wird immer ein grosser Moment sein; dieses erste Schauen über die unendliche Wasserfläche, ein Blick, der einem so winzig klein macht. Nach längerem hin und her und einem Besuch auf dem Polizeiposten von Wijk (mit dem Gewaltigen in umgekrempelten Hemdsärmeln) finden wir hinter den Dünen auf einer Wiese einen recht netten Platz zum Zelten. Die Dünen selbst sind immer noch mit Stacheldrahtverhauen abgesperrt; die Minengefahr ist noch zu gross.

Am Strand ist auch nur ein verhältnismässig kleiner Streifen betretbar, in den anderen Gebieten liegen immer noch die Unterwasserhindernisse aus Eisen und Beton in der See draussen, in denen stellenweise noch Minen verankert sind. Nicht selten kommt es vor, dass nach stürmischen Nächten am Badestrand losgerissene Minen angeschwemmt liegen. Speziell ausgebildete Leute machen sie dann noch vor Auftauchen der ersten Badegäste unschädlich.

Unsere Ankunft löst auf dem kleinen Platz, auf dem noch etliche Wohnwagen und Zelte stehen, eine kleine Sensation aus. Gleich sind wir umringt und müssen für ‚Interviews‘ herhalten. Doch trotz den vielen Leuten und dem vielen Geschwätz steht unser kleines Hüttchen bald komplett da.

Schwarze Wolken und ein steifer Westwind lassen allerdings für die Nacht allerhand erwarten. Der Abend kommt. Doch bevor wir uns verkriechen werden wir noch von unserem Nachbarn zu einem Abendschwatz eingeladen, bei dem unser Nescafé grossen Anklang findet. Es fallen schon die ersten grossen Tropfen, als wir uns endlich in die Nester verkriechen.

Der Westwind und der Regen sorgen in der Nacht für allerhand Überraschungen. Die kleinen Schäden lassen sich aber immer wieder beheben, allerdings müssen wir im strömenden Regen hantieren.

Am nächsten Morgen regnet es. Wanja packt die Gelegenheit am Schopf und ist nicht aus seinem Schlafsack zu bringen! Also Ruhe- und Flontag. Ich wage mich zum Coiffeur. Als ich ‚heim‘ komme ist Wanja in der Zwischenzeit wieder von den Sandmännchen überfallen worden, eine Stunde später aber tummeln wir uns doch fröhlich im Wasser.

Erster Eindruck: Himmel die Giftbrühe ! Dazu aber hat der Mann auf dem Türmchen furchtbar viel zu tun mit uns. Kaum sind wir 20 m draussen, beginnt er schaurig in sein Horn zu stossen. Bei dem Westwind ist es aber auch nicht ratsam, weiter hinaus zu schwimmen. Man bekommt so schon jede Nase lang eine der weissen Brandungswellen über den Kopf!

Baden macht Hunger und deshalb braut Wanja ein wunderbares Essen. Im Dorf hat er sämtliche Bestandteile für belegte Brötchen gefunden und garniert nun eine Reihe schöner weisser Weggchen. Es war wirklich herrlich. Ein „Schüttel-Nescafé“ lieferte die feuchte Unterlage dazu. Aber trotz Kaffee, nach einer viertel Stunde sind von Wanja nur noch leicht röchelnde Töne aus dem Zelt zu hören.

Ich werde zu einem Schwatz in einen der schönen Wohnwagen eingeladen. Ein paar junge Holländer, zur Zeit im Militärdienst, sind auf Urlaub da. Hin und her geht die Diskussion über die Politik und ihre Verwendung in Niederländisch-Indien. Anscheinend hat keiner Lust in irgend einem Urwald dort unten das Zeitliche zu segnen! Und dann muss ich Auskunft geben ob die Schweiz wirklich eine Marine habe. Sie hätten von einigen U-Booten gehört.

Tags darauf sind wir früh auf den Beinen. Wir packen unsere sieben Sachen zusammen, nehmen Abschied von dem nordisch anmutenden Plätzchen und den Leuten und rollen wieder auf dem wackligen Autobus nach Bewerijk. Vor der Abfahrt verbringen wir noch ein paar Minuten auf dem Friedhof neben der Kirche. Angeschwemmte Engländer und Deutsche aus beiden Kriegen liegen etwas abseits von den Einheimischen, schön nebeneinander. Der Tod einigt!

Dann geht es mit der Eisenbahn südwärts. Wir fahren über den Nordseekanal, kommen an Bloemendaal vorbei (wunderschön die kleinen und reizenden Landhäuser, die die Gegend beleben) und erreichen

Haarlem

Wir sind gerade zur 700-jährigen Stadtfeier gekommen. Alle Strassen sind festlich geschmückt. Über die Gassen hinweg hängen die Girlanden und alle verfügbaren Fahnen und Wimpel flattern im Wind. Dazwischen immer wieder grosse Stadtwappen mit der Umschrift: Haarlem 700 Jar Stad.

Uns zieht es gleich in die Innenstadt, auf den schönen Grooten Markt. Leider ist das schöne Bild durch die grosse Freilicht-Tribüne für die Festspiele verunstaltet. So können wir die Einheit des Platzes, mit der Grooten Kerk, dem Rathaus und der Fleischhalle gar nicht erfassen. Das schöne Rathaus, ursprünglich Palast der Grafen von Holland, stammt in der heutigen Form , wie die schräg gegenüber liegende Fleischhalle, aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Die Fleischhalle mit dem reichen Giebel ist wohl eine der schönsten Bauten der niederländischen Renaissance.

Direkt daneben liegt die Groote Kerk, die schöne grosse Kirche aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. Durch die alte, stilgerecht eingerichtete Küsterwohnung, die direkt an der Kirche angebaut ist, kommen wir ins Innere und können uns an den spätgotischen Schranken begeistern, die den Chor vom Schiff trennen. Sonst aber ist das Bauwerk ein Schulbeispiel einer holländischen protestantischen Kirche: Schmucklose graue Weite, überwältigende Formen.

Dann bummeln wir durch die festfrohe Stadt ins Frans-Hals-Museum, wo wir in der Jubiläumsausstellung manches schöne Stück sehen. Kein Wunder, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Maler in dieser Stadt gewirkt haben: Hals, Goltzius, Jakob van Ruisdael, die Wouwermans,. Allart van Evardingen und die beiden Ostade. Das sind nur die Wichtigsten, die ‚grossen Namen‘. Hier hängen die grossen Gildenstücke von Hals, die Stilleben Pieter Claesz‘ und die derben Adrian Brouwer’s.

Man hätte sich tagelang davor verlustieren können! Auch das Museum als Gebäude hat seine Reize. Ein schöner, weiter, nur einstöckiger Bau mit einem bepflanzten Innenhof.

Dann bummeln wir an einem Kanal entlang zu dem nur wenige hundert Meter entfernten ‚Amsterdamer Tor‘, einem letzten Überbleibsel der alten Stadtbefestigung. Ein wuchtiger, formschöner Ziegelbau aus dem Ende des Mittelalters.

Mitten durch den Rummel kehren wir wieder zurück an den Grooten Markt. Durch die hohe Tribüne fristet leider das Denkmal „de Costers“ diese Tage nur ein bescheidenes Dasein, denn nur wenige Meter davor ragen eiserne und hölzerne Gestelle empor. Das schadet weiter zwar nichts, denn schliesslich steht der gute „de Coster“ sowieso zu Unrecht da. Lokal-Patriotismus wollte ihm die Erfindung der Buchdruckkunst unterschieben. Auch das hat man dem guten alten Gutenberg noch angetan!

In Haarlem war an jenem Tage alles mobilisiert. An den Strassenecken musizierten Spielleute und liessen die alten holländischen Kermess-Weisen hören, während sich in den Strassen kleine Spassmachergruppen herumschlugen und das Volk unterhielten. Auf dem Spaarne, dem Fluss der Haarlem durchfliesst, herrschte reges Leben.

Durch die Struktur seiner Kanäle hat Haarlem sein altes Stadtbild weitgehend erhalten können. Selten sind an den alten Strassen neue Häuser zu finden, die neuen Quartiere befinden sich jenseits des den Stadtwall umfliessenden Kanals.

Der Maler, Keys Vermey, dem wir unsere Aufwartung machen wollen, war leider noch nicht in Haarlem. Schade, er hätte uns sicher manch schönen Winkel und vor allem sein reizendes altes, klassisch holländisches Haus gezeigt.

Als es gegen Abend geht, studieren wir wieder an unserem Nachtlager herum. Wir setzen uns in die Bahn und fahren über Overveen durch die weiten Dünen nach

Zaandvoort

Wieder bläst ein steifer Westwind als wir aus dem Bahnhof kommen und über die dem Atlantikwall zum Opfer gefallenen Teile von Zaandvoort gegen das Meer gehen. Auch hier im Sand Bunker an Bunker. Kleine, provisorische Restaurants und Vergnügungsstätten suchen das in die Luft geflogene Kurhaus zu ersetzen.

Etwas abseits steht eine lange Reihe kleiner Weekendhäuschen direkt an der See. Wir suchen uns den Ort für die Nacht aus und fangen an, unser Wigwam aufzuschlagen. Es vergehen nur wenige Minuten bis wir wieder von bald zwei Dutzend Leuten umringt sind. Ein Jeder will etwas wissen. Aber auch für den Abend sind wir gleich versorgt, und so verbringen wir die Stunden bis 11 Uhr in einem netten Kreis von Leuten aus Amsterdam, die den Sommer über mit der Familien jede freie Minute an der See sitzen. Sie sprachen weder deutsch noch englisch, wir nur unsere wenigen Brocken holländisch. Trumpf war also ‚la langue negre‘!

Wir waren recht müde, als wir nach 11 Uhr endlich in unsere Hütte krochen, wenn man jeden Satz mit den Händen klar machen muss. Trotzdem, es war die alte, holländische Gastfreundschaft!

Am Morgen machen wir die Entdeckung, dass sich der feine Küstensand überall festsetzt. Kein Ort, an dem wir ihn nicht antreffen. Selbst ein salziges Morgenbad nützt nicht viel. So machen wir uns eben, leicht versandet, auf nach Amsterdam.

Hinter dem Bahnhof setzen wir uns in ein Schiff und fahren gen Osten, den Quais entlang und durch die Schleusen in die Zuidersee. Auf dem Dampfer herrscht reger Betrieb. Eine Kapelle sorgt für ununterbrochenen Lärm. So ein richtiger Ausflugskahn! Nach etlichen Stunden Fahrt durch den seichten, leicht bewegten See kommen wir nach

Volendam

das zusammen mit Marken  nach unserer Auffassung am ehesten mit einem holländischen Indianerreservat zu vergleichen ist. Volendam ist ein nettes Fischerdorf am Westufer der Zuidersee und hat noch ganz seine alte holländische Eigenart bewahrt. Zusammen mit Marken, einer Insel in der Zuidersee, bildet es ein beliebtes Ausflugsziel vom nahen Amsterdam.

Immerhin hat die Fahrt hierhin ihre Reize. Die Fischerdörfer haben sich architektonisch in der alten Art erhalten und die Bevölkerung ist den farbenfreudigen Trachten treu geblieben. Nach Volendam kommt Marken. Hohe Dämme schützen die niedere Insel gegen das Wasser. Reizend das Dorf mit seinen kleinen Kanälen und den geräucherten Aalen, die in den Höfen feilgeboten werden. Man hält die Dinger am Schwanz und knappert ihnen das Fleisch vom Leibe.

Am späten Nachmittag sind wir wieder in Amsterdam und versuchen uns im KLM-Büro die Plätze für die Heimreise zu sichern. Wanja kommt nach langem hin und her noch zu einem Ticket für Paris, während ich mir sagen lassen muss, dass erst am 10. September der nächste Platz für Basel frei sei. Auch für Zürich nichts zu machen. Gift und Dolch, wieder 26 Stunden lang im Zug. Auch die Zigaretten fehlen uns, um die Lage nach unserem Willen umzuformen.

Durch die Dünen geht es zurück nach Zaandvoort. Noch und noch bläst der Westwind und dicke schwarze Wolken verheissen für die Nacht nichts Gutes. Wir sind so müde, dass wir erst erwachen, als das Zelt zur Hälfte schon nicht mehr steht. In der schwachen Morgendämmerung suchen wir gegen die Bescherung aufzukommen. Ein unheimlicher Wind, der Regen und Sand vermischt durch die Luft peitscht, lässt einem kaum auf dem Boden stehen.

Die tief eingegrabenen und beschwerten Heringe hatten gehalten, dafür aber waren die Verbindungsschnüre gerissen. Und immer wieder: Sand, Sand, Sand. Am Boden, in der Luft, an und in allen Dingen! Uns bleibt nur noch die Flucht in ein Weekendhäuschen.

Mühsam schleppen wir Stück für Stück unsere Dinge die Dünen hinauf. Und immer wieder Regen, Sand und der unheimlich starke Wind, der auf der See draussen beinahe haushohe Wellen vor sich her treibt, die auf den Sandbänken in rauschende Schaumberge zerfallen. Ein unheimlich schönes Bild! Ich beneide die Holländer in diesem Moment wirklich nicht. Der Kampf mit dem Wasser muss furchtbar sein.

Im Weekendhäuschen bei Hannes gibt es einen wärmenden Kaffee, den wir nach all den nächtlichen Abenteuern wohl zu geniessen wussten. Beim dritten Mal geht die Unterhaltung à la langue negre bedeutend besser. Wir können uns gegenseitig schon die verzwicktesten Dinge beibringen!

Der Tag ist zu verregnet, um uns unternehmungs-lustig zu machen. In Zaandvoort aber wollen wir doch nicht versauern und fahren gegen Mittag nach Amsterdam.

Diesmal widmen wir uns zuerst dem Judenviertel und der Rozengracht, dann laufen wir all den schönen Bauwerken von Hendryck de Keyser nach und lassen das fröhliche und überraschungsreiche Stadtbild von Amsterdam auf uns wirken.

Später kommen wir in die Jodenbreestraat und sehen uns hier Rembrandt’s Haus an, in dem er mit Saskia gelebt hat. Merkwürdig, obwohl die Räume stark restauriert sind und in den Details nicht mehr den Zimmern Rembrandts entsprechen, packt einem irgendwie etwas Unbeschreibliches. Im Atelier im oberen Stockwerk herrscht Ruhe, nur von unten dringt, gedämpft durch die alten Scheiben, der Lärm der Strasse herauf. Hier in diesem Raum sind all die Werke entstanden, die zum Schönsten gehören, was je auf dem Gebiete der Malerei geschaffen wurde!

In diesen Zimmern sah einst Saskia zum Rechten, bis ihr früher Tod den materiellen Untergang Rembrandts einleitete. Die Räume beherbergen heute eine Sammlung der Radierungen und etlicher Zeichnungen. Manches Blatt sah ich zum ersten Mal. Ein Jammer, dass vom prächtigen Hausrat Rembrandts nichts mehr da ist. Bei der Versteigerung, noch zu seinen Lebzeiten, ist es in alle Winde zerstreut worden.

Dann spazieren wir wieder an einer Reihe schöner Grachten vorbei und stellen fest, dass wir uns beide in Holland mit allem Drum und Dran verliebt haben.

Diesen Tag lassen wir verschieden ausklingen. Wanja fährt etwas früher nach Zaandvoort, während ich mir bei Dr. Tannenbaum ein wunderbares Abendessen zu Gemüte führen und mir dazu ein paar schöne Bilder ansehen darf.

Als ich an die See komme ist stockfinstere Nacht. Der Wind hat zwar etwas nachgelassen, aber schwarze dunkle Wolken lassen es uns doch ratsam erscheinen, beim gastfreundlichen Hannes in einem der Weekendhäuschen zu übernachten.

Am anderen Morgen nehmen wir endgültig Abschied von Zaandvoort, dessen Sand uns drei Tage lang beherbergt hat. All den netten Leuten schütteln wir die Hand und fahren (nach tausend Versprechungen für Karten, Briefe etc. etc.) über Haarlem nach Leiden.

In Zaandvoort passiert noch eine kleine, lustige Geschichte: Bevor wir einsteigen, wollen wir uns noch versichern, ob wir uns auch dem richtigen Wagen anvertrauen. Mühsam verständigen wir uns mit einem der Trämler – mit Holländisch wollte es bei uns, mit Englisch bei ihm nicht richtig klappen. Nach einigem hin und her wissen wir aber Bescheid und kehren dem Trämler unsere Rucksäcke zu, auf denen kleine Schweizer Fähnchen hängen. Und plötzlich tönt ein gut schweizerischen Fluch durch die Luft mit den Worten: das hättet-er achönne friener saage. Der gute Kerl hatte zehn Jahre lang in Zürich gearbeitet. In

Leiden

verstauen wir unsere Rucksäcke im Bahnhof und ziehen über den Beesten Markt in die Innerstadt. In den zahlreichen Kanälen wird wohl auch etwas Wasser sein, das einmal in Basel unter dem Münster durchgeflossen ist, denn all die vielen Grachten zweigen vom Rijn ab, der hier Galgewater heisst, weil wenige Kilometer weiter unten riesige Schleusen ihn ins Meer befördern helfen.

An der Breedestraat steht das wunderschöne Rathaus, ein Bau Lieven de Keys aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, dem unsere erste Aufmerksamkeit gilt. Eine Inschrift über einem Seitentor erinnert an die grausame Belagerung der Stadt durch die Spanier in den Jahren 1573-74. Wilhelm von Oranien aber gelang es, im Okober des zweiten Belagerungs-Jahres den Ring zu sprengen und die Spanier zum Rückzug zu zwingen. Die Inschrift selbst ist gleich in den ersten freude-reichen Tagen nach der Entsetzung gemeisselt worden.

Nach dem Rathaus kommen die Marte- und die Pieterskerk, dann der WitteSingel mit den Wohnungen der Professoren der Universität, die traditionsgemäss ihre Vorlesungen bei sich zu Hause abhalten. Im Norden der alten Stadt, besonders der Lange Gracht entlang, stehen noch die Reihen der Lagerhäuser aus der Blütezeit der Stadt. So langsam wie damals werden noch heute die Frachtkähne von Hand durch das Wasser gezogen, aber der alte Reiz des Bildes ist durch die modernen Industriebauten verloren gegangen.

Als wir später der breiten Oude West entlang bummeln stossen wir auf das Lakenhal-Museum, das leider nur wenige Werke der bekannten Maler besitzt, die in Leiden gelebt oder hier das Licht der Welt erblickt haben. Voran Lucas van Leiden, dann Rembrandt, Jan Steen, Jakob van Swanenbrugh, Jan van Goyen und andere, die auch der Erwähnung wert wären.

Nach dem langen und schönen Rundgang durch all die Räume gehen wir den Wasserwegen entlang zurück zum Bahnhof. Bevor wir wegfahren, geniessen wir noch ein gutes Mittagessen in einer Schnellbeiz.

Wie schon am frühen Morgen geniessen wir die Fahrt durch Hollands reichste Blumengegend, wobei uns einfällt, dass wir eigentlich noch keine Windmühle richtig angesehen haben. Plötzlich tauchen in einiger Entfernung drei Prachtsexemplare auf! Wir geben dem Kondukteur einen Wink, das Züglein hält. Gleich stehen wir neben unseren Rucksäcken auf offener Strecke und setzen uns Richtung Mühlen in Bewegung.

Doch nun kommt die Tücke des Objektes, denn kaum sind wir 100 Meter über die Wiese gelaufen, stehen wir ratlos am schnurgraden Ufer eines breiten Kanals! Da erbarmen sich unser die Insassen eines kleinen Ruderbootes und bringen uns ans andere Ufer.

Seelenvergnügt wandern wir weiter, überklettern noch etliche Zäune, finden Brücken über neue Kanäle und stehen endlich vor den langersehnten Dingern. Drei Stück in einer Reihe ! Aufnahme um Aufnahme verschwindet im Apparat.

Eine Kuh, die als Diva mit dem klassischen Hintergrund auserkoren war, gefällt aber die neue Rolle gar nicht und sie verschwindet in längen Sätzen zu ihrer Herde. Worauf Wanja und ich beinahe eine viertel Stunde lang an den Hörnern ziehen, bis wir die Primadonna wieder auf dem richtigen Platz haben.

Ein alter Müller führt uns in seinem Reich herum. Oben von der Mühle hat man eine herrliche Rundsicht. Wieder bringen nur die Dünen etwas Bewegung in den strichgeraden Horizont. Ruhig weiden unter uns die scheckigen Kühe auf den durch kleine Kanäle abgegrenzten Weiden. Ein schönes, friedliches Bild.

Wir versprechen dem Müller die Aufnahmen seiner Mühle und ziehen dann wieder an die Bahn, die uns nun endlich doch noch nach

Den Haag

bringt. Dort wollten wir Wanja’s Tanten besuchen, aber wir sind so spät gekommen, dass, wir in der Nacht in einem Hotel verbringen. Lange geht es zwar, bis unser Wunsch realisiert wird, denn es wird zehn Uhr, bis wir endlich in einem Reserve-Reserve-Zimmer eines kleinen Hotels landen. Die ganze Stadt ist bis zum letzten Platz besetzt! Da die Federn beim Einsteigen in den einen Kahn ein schreckliches Konzert vollführen losen wir noch beim Schein des Mondes, der neugierig durch die Dachluke hereinschaut, die Nester aus. Aber auch diese Nacht geht vorüber.

Dieweil wir uns am Morgen nicht ganz sauber fühlen und heute doch einigermassen salonfähig erscheinen müssen, lassen wir uns zuerst einmal im Hallenbad von Den Haag gründlich unsere Reisepatina und den Sand von Zaandvort vom Leibe spülen.

Wie frisch geboren sehen wir uns dann die schöne Stadt an, vor allem aber den Binnenhof und das danebenliegende Mauritishuis. Herrlich, die Dinge die da hängen. Der ganze Rembrandtsaal mit der Anatomie des Dr. Tulp als Mittelpunkt, die prächtige Delfter Ansicht des Vermeer von Delft und der reizende Distelfink des Karel Fabricius, um nur ein paar Höhepunkte zu nennen. Man könnte sich tagelang im Betrachten dieser Herrlichkeiten ergehen.

Das begeisterte Ansehen all der Tafeln hat aber Hunger gemacht, und so geniessen wir das gute Mittagessen bei Wanja’s Tante. Ich glaube, dass Wanja heute noch nicht all die komplizierten und ausführlichen Erklärungen über seine Verwandtschaft begriffen hat! Nach dem Mittagessen bekommt er deshalb ausgiebige Nachhilfestunden, die ich dazu benutze, um Scheveningen und seinem Strand einen kurzen Besuch abzustatten. Wie schnell hat sich dieses Seebad wieder von den tiefen Spuren befreit, die der Krieg hinterlassen hat!

Am Nachmittag nimmt uns Beide noch einmal das Mauritshuis gefangen, dann fahren wir gegen Abend nach

Vassenaar

um den Abend in der reizenden Umgebung der Tante Rief zu verbringen. Deutsch, französisch und englisch, in jeder Sprache wird drauflos geschnattert In den weichen Betten liess es sich herrlich schlafen, aber am Morgen musste ich wehmütig feststellen, dass mein letzter Tag in Holland angebrochen war. Ein wunderbares Morgenessen und dann rührender Abschied und Fahrt mit Wanja nach

Rotterdam

Gute zwei Stunden liefen wir da auf grossen freien Flächen herum, um dann endlich zu merken, dass wir mitten durch die ehemalige Altstadt gegangen waren! In der Gegend des ehemaligen Grooten Markt ist in einem gewissen ‚Landistil‘ ein neues Zentrum im Entstehen, das aber wohl auch wieder weichen muss, wenn die grossartigen Pläne für den Wiederaufbau der Rotterdamer Innerstadt verwirklicht werden. Mit Mühe und Not hat man neue Tramschienen durch die aufgeräumten Trümmerfelder gelegt, um wenigstens den notwendigsten Verkehr aufrecht erhalten zu können.

Gegen Mittag bummeln wir den langen Hafenquais entlang, bestaunen als alte Landratten einen kleinen holländischen Zerstörer und lassen uns dann in ein Gespräch mit zwei bärbeissigen Hochseefischern ein, die mit den Händen in den Hosentaschen vor ihrem Kahn stehen, den Wanja der schönen Segel- und Takelwerksilhouette zuliebe zu photographieren sucht.

Durch die angetane Ehre mit dem Photoapparat werden die zwei recht leutselig und laden uns zu einem Besuch ihres Kahnes ein.

An einem Seil lassen wir uns von der Quaimauer auf das Deck hinunter und kommen gleich in eine mächtig nach Heringen riechende Kabine, wo Nummer 3 der Besatzung in einer kleinen Kambüse das Mittagessen braut. Grosse Schiebeplanken verschliessen die hinter den Bänken in der Kajüte liegenden, furchtbar engen Betten. Wenn da einer gewöhnt ist, bei offenem Fenster zu schlafen! Der kann da drinnen seine heiligen Wunder erleben! Dann sehen wir uns noch die kleine Dieselmaschine ein, lassen unsere letzten Tabakmärkchen da, verabschieden uns und hangeln auf die Quaimauer hinauf. Am gleichen Tag fährt dann der Kahn wieder in seinen Heimathafen Den Helder zurück.

Ausgeebnet liegt dann die Innerstadt von Rotterdam wieder vor uns. Unregelmässige Gräben mit algigem Wasser erinnern an die einst so schönen Grachten. Da darf man nicht darüber nachdenken!

Und dann kommt leider, leider schon der Moment, wenn Wanja und ich uns trennen müssen ! Ich fahre nach Amsterdam zurück, während Wanja am nächsten Tag direkt von Den Haag nach Schiphol fahren kann für den Flug nach Paris. Zusammen bummeln wir noch auf den Bahnhof, dann aber ein letzter Abschied.

Lieber Wanja, Es waren schöne Tage. Hab Dank dafür!